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Nachhaltige Digitalisierung

«Wir sind der Zukunft nicht ausgeliefert»

Digitale Technologien machen viele Systeme und Prozesse effizienter. Informatikprofessor Lorenz Hilty erforscht, wie die digitale Transformation zugleich für eine nachhaltige Entwicklung genutzt werden kann.
Thomas Gull
Eine 5G Mobilfunkantenne im Wald
Mit dem 5G Mobilfunkstandard können Daten effizienter übermittelt werden. Doch weil das Datenvolumen steigt, wird mehr Energie verbraucht.

Lorenz Hilty: Ihr Forschungsgebiet heisst «nachhaltige Digitalisierung». Was erforschen Sie?

Lorenz Hilty: Wir untersuchen, wie die Digitalisierung für eine nachhaltige Entwicklung genutzt werden könnte. Dazu verwenden wir Methoden der Technikfolgenabschätzung (TA). Das ist ein interdisziplinäres Forschungsgebiet, das untersucht, wie sich technologische Entwicklungen auswirken. Was uns derzeit besonders interessiert, ist der CO2-Fussabdruck, den die Digitalisierung hinterlässt.

Wie gross ist dieser?

Schätzungen gehen davon aus, dass die Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) für 1.5 bis 4 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich sind, mit steigender Tendenz. Dies klingt nach wenig, wir können uns angesichts der Klimakrise aber keinen Sektor leisten, dessen Fussabdruck grösser wird. Ein Problem ist der sogenannte Rebound-Effekt. Dieser besteht darin, dass man zwar immer weniger Energie benötigt, beispielsweise um eine bestimmte Menge Daten zu verarbeiten. Wenn dann aber die Datenmenge steigt, wird schlussendlich doch mehr Energie verbraucht. Wir haben dazu ein aktuelles Beispiel.

Welches?

Wir haben untersucht, welche Auswirkungen der Vollausbau des 5G-Mobilfunknetzes auf die CO2-Emissionen haben wird. Die gute Nachricht ist: Die Energieeffizienz wird sich voraussichtlich bis 2030 um den Faktor 7 verbessern. Das heisst, mit 5G wird für die Übertragung eines Gigabytes nur noch ein Siebtel soviel CO2 freigesetzt wie heute, nämlich 4.5 Gramm. Die schlechte Nachricht ist, dass die Kapazität des Netzes für einen Anstieg der Datenmenge auf das Neunfache ausgelegt ist. Das heisst, im ersten Moment denkt man: Wow, toll, 5G ist eine saubere Technologie! Auf den zweiten Blick mussten wir feststellen, dass unter dem Strich mehr CO2 freigesetzt wird, weil der Anstieg der Datenmenge mit Faktor 9 die Einsparungen pro Einheit mit Faktor 7 übersteigt.  

Wie kann die Digitalisierung nicht nur auf den ersten Blick, sondern tatsächlich nachhaltig sein?

Ob die Digitalisierung zur Nachhaltigkeit beiträgt oder nicht, ist keine technische, sondern eine politische Frage. Wir brauchen eine breite Debatte über den Zweck der Digitalisierung und über ihre Ziele. Ich habe mich deshalb an einem internationalen Projekt beteiligt, das zwei Jahre lang die politischen Stellschrauben gesucht hat, an denen gedreht werden müsste, um die heute ziellose Digitalisierung für die Ziele der nachhaltigen Entwicklung zu nutzen. Ergebnis ist der Report «Digital Reset».

An welchen Schrauben müsste denn gedreht werden?

Die Digitalisierung könnte dazu beitragen, die Landwirtschaft ökologischer zu machen, die Kreislaufwirtschaft zu verwirklichen, die Energieversorgung zu dezentralisieren und weniger zu bauen, indem man bestehende Bausubstanz anders und effizienter nutzt. Das alles geht mit digitalen Technologien besser, aber es muss politisch gewollt sein. Die Digitalisierung macht das nicht von selbst.

Sie und ihre Mitautorinnen und - autoren des Digital Reset-Reports postulieren, Digitalisierung müsse ganz neu gedacht und umgesetzt werden. Das heisst, nicht in erster Linie ökonomisch, sondern ganzheitlicher, indem die sozialen und ökologischen Effekte technologischer Innovationen berechnet werden. Ihren Lösungsansatz bezeichnen Sie als «Systemdenken». Was bedeutet das?

Systemdenken ist keine neue Idee. Es ist ja naheliegend, zu analysieren, wie sich Veränderungen in einem dynamischen System auswirken. Dabei beachtet man auch die Akteure, ihre Beziehungen und ihre Entscheidungen. Der erwähnte Rebound-Effekt ist ein Beispiel für systemisches Denken. Es gibt ihn in vielen Bereichen unseres ökonomischen Handelns, besonders auffällig immer wieder im Zusammenhang mit digitalen Technologien. Weniger Material-, Energie- und Zeitaufwand pro Dateneinheit schafft Anreize für mehr Daten. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, nur führt es in der Summe nicht zu einer Einsparung von Ressourcen, wenn die Menge schneller wächst als die Effizienz zunimmt.

Genau das passiert jedoch: Es werden immer mehr Daten produziert, gespeichert und hin- und hergeschoben. Das bedeutet, der Energieverbrauch wird steigen.

Unter dem Strich haben die digitalen Technologien zwar einen bedenklich steigenden, aber immer noch viel geringeren Energieverbrauch als beispielsweise Verkehr, Gebäude oder Ernährung. Die zentrale Frage ist immer die Frage nach dem Zweck. Wenn wir beispielsweise KI-Systeme trainieren, Kryptowährungen ermöglichen oder das Metaverse entwickeln, sollten wir uns fragen: Können wir damit etwas erreichen, das diesen Energieeinsatz und die damit verbundenen Emissionen wirklich wert ist?

Lorenz Hilty

Ein Kernbegriff der Diskussion um eine nachhaltige Entwicklung ist die «Suffizienz». Was bedeutet das?

Es bedeutet einfach, dass wir akzeptieren, dass auf einem endlichen Planeten mit einem fragilen Ökosystem nicht alles unbegrenzt wachsen kann. Es muss eine Idee von «genug» geben, die das Leitbild des exponentiellen Wachstums ersetzt, jedenfalls im materiellen Bereich. Mit der Methode der Lebenszyklusanalyse können wir beispielweise vorhersagen, wie sich ein Produkt von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung auf die CO2-Emissionen oder andere Umweltbelastungen auswirkt. Mit Simulationsmodellen können wir abschätzen, wieviel das in den kommenden Jahrzehnten insgesamt ausmacht. Dabei ist aber wichtig zu verstehen, dass unsere Zukunft nicht determiniert ist. Wir sind ihr nicht ausgeliefert wie dem Wetter von morgen. Wir können sie gestalten mit Technik. Mögliche «Zukünfte» können mit Szenarien beschrieben und erfahrbar gemacht werden. Wir haben beispielsweise im Projekt «Post-fossil Cities» gemeinsam mit der Empa und weiteren Partnern ein Lernspiel entwickelt, in dem die Spieler versuchen, einen urbanen Raum so zu beeinflussen, dass er ab 2050 keine Treibhausgase mehr emittiert für Verkehr, Heizen, Bauen usw.

Was kann man mit diesem Spiel lernen?

Wie die Dinge in einem komplexen System wie einer Stadt zusammenhängen. Der Lerneffekt besteht darin, dass ein solches dynamischen System sehr träge auf Interventionen reagiert. Das bedeutet, dass man weit vorausschauend handeln muss.

Wozu dienen solche Szenarien und Modelle?

Sie sind die Basis für die Debatte, wie wir zu einer nachhaltigen Entwicklung kommen können. Das ist keine wertneutrale Angelegenheit, sondern erfordert eine Diskussion darüber, wie wir uns eine lebenswerte Zukunft vorstellen. Wertvorstellungen fliessen ja schon ein, wenn man mögliche Auswirkungen neuer Technologien in Chancen und Risiken einteilt. Deshalb entwickeln wir aktuell im Projekt «Wege zur Suffizienz» eine partizipative Methode zur Entwicklung von Zukunftsbildern, die darauf basiert, dass in einer materiell begrenzten Welt nicht alles weiter wachsen kann und soll, einiges aber schon. Die Frage «Was soll in Zukunft wachsen und was nicht?» ist ein erstaunlich guter Türöffner für Diskussionen über Zukunft, die sonst leider viel zu selten gestellt wird.

Was soll wachsen und was nicht?

Erstaunliche viele Teilnehmende unserer Workshops nennen die Zeit, die man mit einer sinnstiftenden Tätigkeit verbringt oder gute Beziehungen unter dem Stichwort «soll wachsen». Was nicht weiter wachsen soll, ist alles, was Ungleichheit verschärft oder unsere Lebensgrundlagen schädigt. Es hat noch niemand als Zukunftsvision formuliert,  er oder sie wolle in immer kürzeren Zeitabständen neue Smartphones kaufen.

Kann es gelingen, die Digitalisierung so zu gestalten und zu nutzen, dass sie zur Nachhaltigkeit beiträgt?

Klimawandel und Biodiversitätsverlust sind dringende Probleme, auf die wir besser gestern als heute reagieren sollten. Bei der Digitalisierung gelingt das leider so wenig wie auf allen anderen Gebieten. Es bleibt uns nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken. Ich befürchte deshalb, dass die wissenschaftliche Forschung mit ihren Ergebnissen zu langsam auf das politische und ökonomische Handeln einwirken kann, um die Digitalisierung auf Nachhaltigkeitsziele auszurichten. Wir haben dennoch die Verantwortung, es weiter zu versuchen.

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