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Medien- und Kulturwissenschaft

Weltschmerz in Krisenzeiten

Identitätssuche und Gefühlschaos von Jugendlichen sind der Stoff von Coming-of-Age-Geschichten. Heute spielen sich diese vor dem Hintergrund von Klimawandel, Krieg und Energiekrise ab. Dabei leiden die Jugendlichen an der Welt, retten können oder wollen sie sie aber meist nicht.
Ümit Yoker
Jugendliche Heldin: die Figur Katniss Everdeen aus der Filmreihe «The Hunger Games». (Bild: PD)

Ablösung von den Eltern und Ausgeschlossensein, innige Freundschaft, erwachende Sexualität und unerwiderte Liebe sind schon lange zentrale Themen in Erzählungen über das Erwachsenwerden. «Seit einiger Zeit entwickeln sich Coming-of-Age-Geschichten jedoch von einem primär entwicklungspsychologischen zu einem gesellschaftskritischen und politischen Genre», stellt Medien- und Kulturwissenschaftlerin Christine Lötscher fest.

Das Gefühlschaos der Heranwachsenden spielt sich heute vor dem Hintergrund von Klimawandel, Krieg und Energiekrise ab. Das persönliche Leiden hängt immer irgendwie mit den grossen globalen Krisen zusammen. «Der jugendliche Weltschmerz ist so auch Antwort auf die Lage der Welt», sagt Lötscher. Die Professorin für Populäre Literaturen und Medien untersucht, wie in Literatur, Film oder Fernsehen gesellschaftliche Diskurse und Konflikte ausgehandelt werden.

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Genderfragen, Rassismus oder Klassenunterschiede lassen sich in Teenagergeschichten ausgezeichnet verhandeln.

Christine Lötscher
Medien- und Kulturwissenschaftlerin

Lohnt es sich, erwachsen zu werden?

Einst drehten sich Geschichten über Jugendliche vor allem um die Frage, wie aus einem jungen Menschen der «fertige» Erwachsene wird. Klassisches Beispiel des so genannten Bildungs- oder Entwicklungsromans ist «Wilhelm Meisters Lehrjahre» von Johann Wolfgang von Goethe. Der eigentliche Übergang zum Erwachsenwerden und damit der Jugendliche selbst (seltener: die Jugendliche) wird dagegen erst ab dem 20. Jahrhundert literarisch thematisiert. Niemand dürfte das Genre mehr geprägt haben als J.D. Salinger mit seinem 1951 erschienenen Roman «Der Fänger im Roggen». Später hätten auch Freundschaftsfilme wie «The Goonies» oder «Stand by Me» grossen Einfluss ausgeübt, sagt die ehemalige Literaturkritikerin Christine Lötscher. «Die Motive dieser Filme findet man in Serien wie ‹Stranger Things› wieder.»

Heute stellt sich in Teenagerstorys jedoch immer öfter die Frage: «Lohnt es sich überhaupt noch, erwachsen zu werden?» In aktuellen Coming-of-Age-Erzählungen werde angesichts des Gefühls allgegenwärtiger Krisen der Zweck des Erwachsenwerdens in Frage gestellt, erklärt Christine Lötscher: «Wir wissen als westliche Konsumgesellschaft ja selbst gerade kaum, wo es hinsoll. Uns ist zwar klar, dass wir den Gletscherschwund stoppen und die Artenvielfalt schützen sollten – aber darüber hinaus?»

Es erstaunt Lötscher nicht, dass die grossen Krisen ausgerechnet in die Geschichten über das Erwachsenwerden einfliessen. Solche Geschichten sind der Ort, wo auch schwere Themen auf unterhaltsame und witzige Weise verhandelt werden können. Die Wissenschaftlerin konzentriert sich in ihrem aktuellen Forschungsprojekt darauf, wie sich dieser Paradigmenwechsel in Bildsprache und Erzählform niederschlägt. Bewusst wählt sie dabei den Begriff Coming-of-Age-Erzählung und nicht Adoleszenz- oder Entwicklungsroman, weil es sich längst um ein Genre handelt, das verschiedene Medien nutzt.

Paradigmenwechsel durch Buffy

Den Wandel zum gesellschaftskritischen und politischen Genre angestossen haben schon Mitte der Neunzigerjahre die amerikanische Fernsehserie «Buffy, die Vampirjägerin» und deren Spin-off «Angel». Ein herziges blondes Mädchen, das nicht einfach Teenager sein kann, sondern mit seinen Freunden gegen dunkle Mächte kämpfen muss, Dämonen als Allegorien für patriarchale Traditionen oder Konformitätsdruck – das mag etwas gesucht klingen. «Doch zum ersten Mal wurden hier in einer Teenagerserie auch grosse gesellschaftliche Themen verhandelt», betont Lötscher. Heranwachsende mussten sich plötzlich nicht mehr nur am dominanten Vater und der fiesen Klassenkameradin abarbeiten, sondern ebenso an gesellschaftlichen Missständen.

In dieselbe Zeit fällt auch eine andere Geschichte, dieses Mal eines Jungen, dem ebenfalls nichts Geringeres aufgebürdet wird, als gegen das ganz Böse zu kämpfen. Im Grunde sei auch in «Harry Potter» ein ganz neuer Blick auf die Jugend angelegt worden, ist Lötscher überzeugt – einer, der heute allgegenwärtig ist, ganz besonders im Zusammenhang mit dem Klimawandel, «in dem wir der heranwachsenden Generation viel zu viel Verantwortung für die Zukunft aufbürden».

Lange habe man sich die enorme Begeisterung der Erwachsenen für den Zauberschüler in Hogwarts mit den diversen Genres erklärt, die in «Harry Potter» zusammenfinden; die Geschichten vereinen Elemente aus Märchen und Krimi, aus Geschichtsroman, Fantasy und eben auch Teenagerstory. Für die Forscherin ist jedoch viel entscheidender, wie fundamental sich damals das Verständnis von Jugend verändert hat, indem die Aussicht auf das Grosswerden nicht mehr beflügelt, sondern erdrückt.

Die Welt retten? Nein danke!

Harry Potter und Buffy zum Trotz: Im Gegensatz zu Genres wie etwa Dystopien leben Adoleszenzgeschichten viel weniger von Heldinnen und Helden als von ambivalenten und problematischen Figuren, die auch einmal scheitern. Heute sind Jugendliche in Serien und Romanen denn auch weder allesamt Klimaaktivistinnen noch heftig in der Politik engagiert. Und die globalen Krisen kommen meist nicht explizit zur Sprache, sondern dienen meist als Hintergrund.

«Katniss Everdeens sind eher selten», sagt Lötscher. Der Widerstand der jugendlichen Protagonistinnen und Protagonisten zeigt sich darum selten darin, dass sie sich wie besagte Heldin Everdeen aus der Filmreihe «Hunger Games» einem modernen Gladiatorenkampf aussetzen, um die Bewohnerinnen und Bewohner eines diktatorisch geführten Staates vor dem Hungertod zu bewahren, sondern darin, dass sie sich genau der Erwartung verweigern, die Welt zu retten. Für diese Figuren steht die Gegenwart im Mittelpunkt. Ein intensives Leben und Fühlen im Jetzt.

Wenn es aber politische Themen gibt, die im Coming-of-Age-Genre tatsächlich zur Sprache kommen, sind dies Genderbinarität und sexuelle Identität. In fast allen erfolgreichen aktuellen Serien stehen Figuren im Zentrum, die konventionelle Geschlechterzuschreibungen in Frage stellen. «Genderfragen, aber auch Rassismus oder Klassenunterschiede lassen sich in Teenagergeschichten ausgezeichnet verhandeln», sagt die Wissenschaftlerin. «In unserer Fantasie sind junge Menschen zwar gefährdete, aber eben auch widerständige Wesen, die äusserst sensibel auf Ungerechtigkeit reagieren.»

Projektionsfläche für Erwachsene

Denn wohlgemerkt: Es geht hier immer um jugendliche Figuren, die von Erwachsenen geschaffen wurden, um Projektionsflächen, die letztlich unsere eigenen Ängste, Hoffnungen und Wünsche in Bezug auf die Zukunft ausdrücken, und nicht unbedingt die der realen Jugendlichen. Über Heranwachsende im echten Leben wissen wir nämlich, jenseits dessen, was unter Schlagwörtern wie «Klimajugend» oder «Medienkonsum» abgehandelt werden kann, herzlich wenig, sagt Lötscher.

«Wir haben heute eine enorme Obsession für das Thema Jugend», stellt die Medien- und Kulturwissenschaftlerin fest. Natürlich sei dies nicht unwesentlich dem schlechten Gewissen geschuldet, welche Welt wir der nächsten Generation hinterlassen. Gleichzeitig aber idealisieren wir gerade die Jugend derzeit mehr als jedes andere Lebensalter. Es sei uns nicht gelungen, Gesellschaften zu schaffen, in die unsere Jugendlichen gerne hineinwachsen möchten, deshalb würden wir diese Lebensphase derart verklären, sagt Lötscher. «Fragt man Erwachsene allerdings, ob sie selbst gerne wieder sechzehn wären, ist die Antwort meist eindeutig: bitte nicht!»

Dieser Artikel erschien zuerst im UZH Magazin 1/23.

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