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Frühkindliche Entwicklung

Was isst Ihr Kind?

An der UZH startet eine grossangelegte Kinderernährungsstudie. Unter der Leitung des Neonatologen Giancarlo Natalucci und des Entwicklungspsychologen Tilman Reinelt soll untersucht werden, wie Ernährung, familiäres Umfeld und Lernumgebung gemeinsam die Entwicklung von Kindern in ihren ersten Lebensjahren beeinflussen.
Alice Werner

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Welche Rolle spielen Väter in der frühkindlichen Entwicklung? Unter anderem dieser Frage soll in der «LEARN»-Studie zu Ernährung und Erziehung von Babys und Kleinkindern nachgegangen werden.

Für die gesunde Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern spielt eine ausgewogene Ernährung eine wichtige Rolle. (Werdende) Eltern finden im Internet dementsprechend umfassende Informationen zu geeigneten Ernährungsformen. Ob Empfehlungen vom Bundesamt, von der Schweizerischen Gesellschaft  für Pädiatrie oder von kommerziellen Anbietern: Bezüglich Essenstipps scheint – zumindest bei den wesentlichen Fragen – Einigkeit zu herrschen. Oder täuscht der Eindruck?

Giancarlo Natalucci: Sie haben recht, zur altersgerechten Ernährung von Kindern gibt es eindeutige Empfehlungen und Richtlinien. Die Datenlage ist diesbezüglich relativ klar. Dass beispielsweise das Stillen vielfältige gesundheitliche Vorteile für Mutter und Kind hat, ist in der Forschungsliteratur gut dokumentiert.

Aber – um bei diesem Aspekt zu bleiben: Wir wissen zum Beispiel nicht, wie gross dieser positive Effekt des Stillens auf die neurologische Entwicklung des Säuglings in einem entwickelten, reichen Land wie beispielsweise der Schweiz ist – oder ob er in der Entwicklung eines hier geborenen Kindes überhaupt ins Gewicht fällt. Der Slogan «breast is best» mag zum Teil auf Babys zutreffen, die in einer optimalen Umgebung aufwachsen, aber eventuell profitieren sie noch stärker, wenn, neben der Mutter, auch andere Bezugspersonen aktiv in die Pflege und Betreuung einbezogen werden.

Diese Wechselwirkungen zwischen frühkindlicher Ernährung, elterlichem Erziehungsverhalten, Familienleben und der (häuslichen) Lernumgebung sind in der Forschung bisher kaum untersucht worden.

Unter dem Projektnamen «LEARN» starten Sie nun gemeinsam mit Ihrem Team eine grossangelegte Kinderernährungsstudie, die auf ebendiese Zusammenhänge fokussiert. Welche Fragen interessieren Sie besonders?

Tilmann Reinelt: Wir interessieren uns zum Beispiel für die langfristigen Auswirkungen der frühkindlichen Ernährung. Bis zu welchem Alter lassen sich eindeutige Effekte nachweisen? Lässt sich ein Unterschied beobachten, ob Mutter- oder Formulamilch gefüttert wurde? Gibt es Kinder – etwa Frühgeborene, Risikopatienten oder Kinder aus einem sozioökonomisch schlechter gestellten Haushalt – die von einer bestimmten Ernährung stärker oder länger profitieren?

Ein anderer Aspekt, zu dem es nur wenige Erkenntnisse aus der Forschung gibt, betrifft die Rolle von Vätern für die frühkindliche Ernährung und Entwicklung. Führt ein modernes Rollenverständnis innerhalb von Familien zu einem anderen Ernährungsverhalten? Wird ein Baby zum Beispiel häufiger mit Formulanahrung gefüttert, wenn ein Vater einen Teil der Betreuung übernimmt? Und hat dies Effekte auf das kindliche Denken, Fühlen und Handeln sowie auf die Entwicklung des Essverhaltens? Lassen sich Säuglinge vielleicht leichter füttern, wenn die Eltern sich die Aufgaben teilen und somit entspannter sind?

Nicht nur die Rollenbilder, sondern auch die Formen der Ernährung im Alltag sind heute sicherlich vielfältiger als früher.

Reinelt: Richtig. Deshalb haben viele Studien zur frühkindlichen Ernährung ihre Aussagekraft – zumindest teilweise – verloren, weil in der Regel Kinder miteinander verglichen wurden, die entweder voll gestillt oder voll mit Ersatzmilch gefüttert wurden.

Das Verständnis von Familie und der Familienalltag sind heute jedoch häufig deutlich anders als noch vor zehn Jahren. Mittlerweile sind alle möglichen Kombinationen üblich. Dass der Vater seinem Baby abgepumpte Muttermilch in die Krippe bringt, ist nicht aussergewöhnlich. Abgesehen davon ist die Formulamilch von den Herstellern ja auch weiterentwickelt worden. Daher interessiert uns in unserer Forschung sowohl die Ernährung mit Muttermilch als auch mit Muttermilch-Ersatznahrung und, später im Kinderleben, mit fester Nahrung.

Wie läuft das Forschungsprojekt ab?

Natalucci: Wir untersuchen in einer prospektiven Geburtskohortenstudie die kindliche Entwicklung, Ernährung sowie mütterliches und väterliches Erziehungsverhalten zu unterschiedlichen Zeitpunkten (3, 6, 12 und 24 Monate). Diese Zeitpunkte werden durch 13-tägige Abendbefragungen, einem Ernährungstagebuch (inklusive Abgabe biologischer Proben von der Mutter- bzw. Ersatzmilch und dem Stuhl des Kindes) und einer kontinuierlichen Dokumentation der kindlichen Entwicklung in einer App unterstützt.

Zudem bitten wir die Eltern kurze Videos aufzunehmen, wie sie im Alltag mit ihren Kindern interagieren. Ausserdem erfolgt in regelmässigen Abständen eine Entwicklungsdiagnostik des Kindes bei uns im Labor. Auf diese Weise werden mehrere Zeitskalen (Tage, Monate, Jahre) berücksichtigt, um unterschiedliche Entwicklungsverläufe zu beschreiben. Ziel ist es, die Kohorte mindestens bis ins junge Erwachsenenalter zu verfolgen.

Nach welchen Kriterien werden die teilnehmenden Familien ausgesucht?

Natalucci: Teilnehmen können Familien aus dem Kanton Zürich, deren Kinder gesund und nicht älter als 6 Wochen sind. Da unsere Fragebögen auf Deutsch und Englisch verfasst sind, sollte zumindest ein Elternteil eine der beiden Sprachen gut beherrschen. Wir sind dankbar, wenn möglichst viele Familien an der Studie teilnehmen und dazu beitragen, wichtige Einflussfaktoren für eine gesunde Entwicklung von Kleinkindern besser zu verstehen.

LRF Zentrum für Neuroentwicklung, Wachstum und Ernährung des Neugeborenen

Giancarlo Natalucci ist Neonatologe und Entwicklungspädiater und leitet das 2019 gemeinsam von der UZH und der Family Larsson-Rosenquist Foundation gegründete LRF Zentrum für Neuroentwicklung, Wachstum und Ernährung des Neugeborenen am Universitätsspital Zürich.

Gemeinsam mit seiner interdisziplinären Forschungsgruppe aus Mediziner_innen, Zellbiolog_innen und Psycholog_innen untersucht der Stiftungsprofessor im Rahmen eines klinischen Forschungsprogramms den Einfluss der frühkindlichen Ernährung auf die neurologische Entwicklung von Kindern. Zudem führen die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Grundlagenforschung zur Charakterisierung und zum biochemischen Verhalten von Nährstoffen und bioaktiven Verbindungen der Muttermilch durch.

Die Forschenden interessiert vor allem, inwiefern diese Muttermilchbestandteile neuronale Zellen schützen und physiologische Funktionen stabilisieren können. Ziel ist es, ein interdisziplinäres Kompetenzzentrum für Neuroentwicklung, Wachstum und Ernährung in der Neonatologie aufzubauen, das die Entwicklung von Kindern und die spezifischen Bedürfnisse ihrer Familien untersucht.