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Kunst des Lernens

Aufkreuzen im Kopf

Während wir als Kinder und junge Erwachsene mit Rückenwind lernen, fällt es uns im Lauf des Lebens zunehmend schwerer, uns neue Fähigkeiten anzueignen. Doch es ist wie beim Segeln: Man kann auch bei Gegenwind vorankommen – man muss nur wissen, wie.
Roger Nickl
Wir sind ein Leben lang lernfähig: Trauen Sie sich immer wieder, Neues zu lernen, und bleiben Sie dran – Ihr Gehirn wird es Ihnen danken. (Illustration: Samuel Jordi)


In manchen Sprichwörtern mag ein Körnchen Wahrheit stecken. Einige sind aber schlicht und einfach falsch – und zwar wissenschaftlich beglaubigt. «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr» ist eine solche Zuckersäckchen-Weisheit. «Sie ist einer von vielen Mythen, die sich um das Thema Lernen ranken», sagt Neuropsychologin Nora Raschle, die am Jacobs Center for Productive Youth Development der UZH die Entwicklung des Gehirns bei Kindern und Jugendlichen und in diesem Zusammenhang auch das Lernen erforscht.

Zwar ist die Wissenschaft noch bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts davon ausgegangen, dass das ausgereifte Hirn – also mit zirka 25 Jahren – sich nicht mehr weiterentwickelt und so das Hänschen-Sprichwort eben doch stimmt. Seit den späten 1980er-Jahren hat sich dies jedoch grundlegend geändert. Denn die Forschung auch an der UZH zeigte und zeigt seither in immer neuen Studien, dass sich unser Denkorgan ein Leben lang verändert und mehr oder weniger flexibel bleibt. Diese Plastizität, wie es die Wissenschaft nennt, ist die Grundlage dafür, dass wir von Kindsbeinen an bis ins höhere Alter lernen und uns weiterentwickeln können.

Wir sind geborene Wissenschaftler

Doch die Bedingungen für unsere Lernreise durch das Leben ändern sich massiv. Als Kinder lernen wir mit Rückenwind. «Wir werden quasi als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geboren», sagt Neuropsychologin Raschle, die zu ihrer Forschung auch den Blog «Born a Scientist» betreibt, «Kinder sind enorm neugierig, erkunden ihre Umgebung, probieren Sachen und loten Grenzen aus.» Vieles lernen sie einfach nebenbei. Sie lernen zu laufen, zu sprechen, zu lesen. Später gelingt es ihnen immer besser, sich in andere hinzuversetzen, ihre Gefühle zu regulieren und über Dinge vertieft nachzudenken. Das Gehirn ist in dieser Zeit enorm flexibel, dynamisch und aufnahmebereit. Die Nervenzellen sind dicht verwoben, die neuronalen Netzwerke anpassungsfähig und die Kommunikation zwischen den Zellen läuft wie geschmiert.

Mit Gegenwind rechnen

Im Lauf des Erwachsenenalters verändert sich dies zusehends. Mit dem Älterwerden nehmen Masse und Volumen des Hirns ab und die Nervenzellen in unserem Kopf leiten Informationen nicht mehr so schnell weiter wie in den Kinder- und Jugendjahren. Dieser Prozess beginnt schon bei jüngeren Erwachsenen und beschleunigt sich im Lauf des Lebens zusehends. Damit müssen wir beim Lernen mit immer mehr Gegenwind rechnen. Das ist zwar unkomfortabel, aber nicht ganz hoffnungslos. Denn es ist wie beim Segeln: Man kann auch vorankommen, wenn einem der Wind entgegenbläst. Man muss einfach wissen, wie. Beim Segeln kreuzt man auf – doch was tun wir punkto Lernen?

Regelmässig trainieren

Zum Beispiel unseren «Hirnmuskel» auch im Erwachsenenalter weiter fleissig und regelmässig trainieren. Denn mit unserem mentalen Bizeps verhält es sich ähnlich wie mit unseren Oberarmen. Wer sie stärken will, muss etwas tun dafür. Wie sich das Hirn von Erwachsenen beim Lernen verändert, erforscht Susan Mérillat am Universitären Forschungsschwerpunkt «Dynamik gesunden Alterns» der UZH (siehe Kasten Seite 28). In einer Studie hat die Neuropsychologin an 40- bis 60-jährigen Golfanfängerinnen und -anfängern untersucht, wie intensives Training dieses für Körper und Geist anspruchsvollen Sports das Hirn beeinflusst. Es zeigte sich dabei, dass sich bereits nach 40 Golfstunden  das Zusammenspiel von Auge und Hand, das zentral für das Golfen ist, stark verbesserte.

Das Training hinterliess auch im Hirn der Golfspielerinnen und -spieler Spuren. So stellte die Forscherin fest, dass die graue Substanz, in die die Neuronen eingebettet sind, in Gehirnarealen wuchs, die visuelle und motorische Reize verarbeiten. Mit dem regelmässigen Golfprogramm wurden tatsächlich also auch bestimmte «Hirnmuskeln» in unserem Kopf trainiert. Deutlich wurde auch, dass diejenigen Golfspielerinnen und -spieler, die das Trainingspensum in kurzer Zeit absolvierten, also intensiver trainierten, grössere Fortschritte machten und sich stärkere Veränderungen im Gehirn zeigten.

Wanderwegnetz im Kopf

Auf Ebene der Zellen führen intensive Trainings- und Lernprozesse – sei es Golf spielen, unseren Englischwortschatz aufbessern oder regelmässig mathematische Probleme wälzen – zu Veränderungen der Signalübertragung, also der Kommunikation zwischen den Neuronen, und somit zu Veränderungen der neuronalen Netzwerke. Beim fleissigen Üben werden Verbindungen zwischen Nervenzellen in unserem Hirn ausgebaut oder neu geschaffen – Verbindungen, die dagegen wenig oder gar nicht gebraucht werden, verkümmern allmählich.

«Das ist ähnlich wie bei einem Wanderwegnetz», sagt Susan Mérillat, «die Wege, die von vielen Wanderern genutzt werden, sind breit und gut ausgebaut, diejenigen aber, die nur selten oder gar nicht begangen werden, sind schmal und zunehmend von Gras überwachsen.» Anders gesagt: Auf den durch körperliches und geistiges Training gut ausgebauten Kommunikationsrouten in unserem Kopf herrscht ein reger Datenverkehr – Informationen werden vergleichsweise schnell und in grosser Zahl übermittelt und ausgetauscht. Dies steigert unsere Fähigkeiten. Und so macht stete Übung vielleicht noch keine Meisterin und keinen Meister, aber sie lässt unser Hirn wachsen und führt zu deutlichen Lernfortschritten.

Richtig Üben lernen

Doch auch das richtige Üben will gelernt sein. «Viele lernen nicht sehr effizient», sagt Susan Mérillat. Zwar ist es wichtig, dass wir einen Lernstoff oft wiederholen. Sture Repetition bringt aber wenig. Denn unser Gehirn mag es gerne bunt und liebt es, wenn es vielseitig stimuliert wird. «Erfolgreich lernen bedeutet, unterschiedliche Hirnareale miteinander zu verknüpfen», sagt auch Nora Raschle. Ideal ist deshalb, wenn wir uns möglichst vielfältig mit Lerninhalten beschäftigen.

Wollen wir uns beispielsweise biologisches Wissen dazu aneignen, wie Zellen funktionieren, lesen wir vielleicht zuerst einen Text dazu, zeichnen danach eine detaillierte Skizze oder machen eine Mindmap, suchen nach sprachlichen Vergleichen, Analogien und Bildern – etwa eine Zelle ist aufgebaut wie eine Fabrik oder wie eine Stadt – und diskutieren das Gelernte mit anderen. Durch diese vielseitige Auseinandersetzung mit einem Thema wird das Wissen nachhaltiger im Informationsnetzwerk in unserem Kopf abgespeichert. «Es ist weniger wirksam, wenn man nur auf die Art lernt, die einem am besten zu liegen scheint», betont Neuropsychologin Raschle, «pflegen wir unterschiedliche Lernstile, erhöht das den Lernerfolg.»

Durch eine vielseitige Auseinandersetzung mit einem Thema wird das Wissen nachhaltiger im Informationsnetzwerk in unserem Kopf abgespeichert. (Illustration: Samuel Jordi)

Gedankenschlösser bauen

Unterschiedliche neuronale Netzwerke sind auch an unserem Gedächtnis beteiligt, das als Informations- und Wissensspeicher für das Lernen zentral ist. Die Kognitionspsychologin Lea Bartsch erforscht an der UZH unter anderem, wie bestimmte Lerntechniken das Erinnerungsvermögen bei Menschen aus verschiedenen Altersgruppen positiv beeinflussen können. Eine dieser Gedächtnisstrategien ist die Loci-Methode, die bereits Redner im antiken Griechenland vor über zweitausend Jahren erfolgreich anwendeten. Und zwar so: Stellen Sie sich vor dem geistigen Auge ein Haus oder vielleicht auch ihre eigene Wohnung vor und legen Sie in verschiedenen Zimmern an ganz unterschiedlichen Orten Wörter, Begriffe, Zahlen, Bilder ab, die Sie sich merken wollen. Bei einem späteren Gang durch diese mentalen Räume lassen sich die deponierten Gedächtnisinhalte dann einfacher wiederfinden und abrufen. Die Methode gehört zu den Erfolgsrezepten von Gedächtnissportlern, die sich zuweilen ganze Gedankenschlösser bauen, in deren Gemächern sie riesige Datenmengen aufbewahren und verfügbar halten können.

Der Bau solcher Gedankenschlösser ist aufwändig und deshalb wohl nur bedingt alltagstauglich. Eine einfachere Methode ist, sich Wörter zu merken, indem man sie zu Sätzen verknüpft. Aus Pony, Zahn, Kaffee und Fussball wird dann zum Beispiel: «Das Pony mit dem grossen Zahn spielt nach dem Kaffee Fussball.» Dieser Satz mag vielleicht nicht besonders sinnvoll sein, dafür ist er originell und verknüpft die Begriffe, die man speichern will, und hält diese so besser in Erinnerung.

Schlaue Junge, weise Alte

Lea Bartsch hat nun untersucht, wie junge Erwachsene im Alter von 18 bis 32 Jahren und ältere Erwachsene zwischen 65 und 80 Jahren von dieser Gedächtnisstrategie profitieren können. Wie sich zeigte, half die Technik vor allem den Jüngeren. Sie konnten sich Informationen deutlich besser merken, während die Älteren kaum einen Nutzen aus dem Gedächtnistraining ziehen konnten. «Zumindest gilt dieser Befund für einmalige, kurze Trainingsequenzen», sagt Lea Bartsch, «mit wiederholtem Training der Strategie können auch Ältere ihre Gedächtnisleistung über Wochen hinweg verbessern.»

Lernqualitäten verändern sich

Mit dem Älterwerden wird aber nicht einfach alles mühsamer, sondern die Qualitäten des Lernens verändern sich. Zwar ist das junge Gehirn besonders formbar, leistungsfähig und aufnahmebereit. Kinder und junge Erwachsene verfügen deshalb, wie es in der Psychologie heisst, über eine hohe fluide Intelligenz. Die Älteren haben dagegen mehr Mühe, sich völlig neues Wissen anzueignen. «Aber ein altes Gehirn kann auch manches besser», sagt Susan Mérillat.

Ältere Menschen können beispielsweise neue Informationen gut mit dem Wissen, das sie sich über das Leben hinweg erarbeitet haben, verknüpfen. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von kristalliner Existenz. Anders gesagt: Während die Jüngeren schlau und gewieft sind, sind die Älteren vielleicht weise. Sie können die altersbedingten Einbussen ihrer Gehirnleistung durch ihre Erfahrung kompensieren. Es ist nicht die einzige Kompensationsleistung, zu der unser Denk­organ fähig ist. Sie kann so weit gehen, dass bestimmte Gebiete des Hirns für andere einspringen und deren Funktion übernehmen, wenn Letztere krankheitsbedingt beeinträchtigt sind oder ausfallen. «So hilft der visuelle Kortex zum Beispiel beim Tasten mit, wenn jemand nicht mehr sehen kann», sagt Susan Mérillat.

Kognitive Reserven anlegen

Auch dies ist ein Beleg dafür, wie unglaublich plastisch, veränderbar und lernfähig unser Gehirn bis ins Alter ist. Vorausgesetzt, dass wir neugierig und wissensdurstig bleiben. «Es lohnt sich, im Verlauf des Lebens kognitive Reserven anzulegen – von diesem Kapital können wir im Alter zehren», sagt Susan Mérillat. So hat eine Untersuchung ihrer Kollegin Isabel Hotz am Universitären Forschungsschwerpunkt «Dynamik gesunden Alterns» gezeigt, dass eine gute Ausbildung und lebenslanges Lernen auch im hohen Alter Früchte tragen: Hotz’ Langzeitstudie, in der sie Daten von mehr als 200 Senio­rinnen und Senioren analysierte, macht deutlich, dass bestimmte Degenerationsprozesse im Hirn bei Akademikerinnen und Akademikern weniger schnell voranschreiten und altersbedingte Einschränkungen besser kompensiert werden.

Es zahlt sich also aus, geistig rege und interessiert zu bleiben. Dies scheinen sich viele ältere Menschen in der Schweiz zu Herzen zu nehmen: Denn der Bildungshunger unter den Seniorinnen und Senioren ist gross, wie eine andere Studie der UZH kürzlich feststellte. Das trifft sich gut. Denn die Neugier ist der Motor des Lernens, sagt Nora Raschle.

Dieser Artikel stammt aus dem UZH Magazin, Ausgabe Nr. 3, 2022.