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European Group on Ethics in Science and New Technologies

«Ich bin gerne Brückenbauerin zur EU»

Die UZH-Ethikprofessorin Nikola Biller-Andorno ist seit Anfang Jahr Mitglied in der Ethik-Gruppe der EU. Diese berät die Europäische Kommission, wie neue Technologien und wissenschaftliche Erkenntnisse im Einklang mit den Werten Europas eingesetzt werden können.
Brigitte Blöchlinger

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«Alle Gruppierungen in einer Gesellschaft sollen sich zu ethischen Fragen äussern können.» Die Ethikprofessorin Nikola Biller-Andorno wurde in die Europäische Ethik-Gruppe ernannt.

 

Die European Group on Ethics in Science and New Technologies (EGE) besteht aus 15 unabhängigen Expertinnen und Experten aus verschiedenen Disziplinen wie Recht, Medizin, Sozialwissenschaften und Technologieforschung. Die EGE berät die 26-köpfige politische Führung der Europäischen Kommission und deren Präsidentin Ursula von der Leyen in ethischen Fragen, die sich bei der wissenschaftlichen Forschung und der Einführung neuer Technologien ergeben. Die EGE ist insbesondere für die Wahrung der Grundrechte und der ethischen Werte beim Einsatz neuer Technologien in der Wissenschaft besorgt.

Dass mit der UZH-Ethikprofessorin Nikola Biller-Andorno neu eine Forschende aus der Schweiz in der EGE vertreten ist, ist nicht nur für die UZH ein grosser Gewinn, sondern auch für den Forschungsstandort Schweiz. Es ist zu erwarten, dass die Ergebnisse der Europäischen Ethik-Gruppe auch in die Forschungsprogramme der EU einfliessen werden. Seit die Schweiz letzten Mai die Verhandlungen mit der EU zu einem Rahmenabkommen abgebrochen hat, können sich Schweizer Forschende nur mehr an rund zwei Dritteln der Ausschreibungen von «Horizon Europe» und nur in beschränktem Ausmass beteiligen. «Horizon Europe» gilt als das grösste Forschungs- und Innovationsförderprogramm weltweit.

UZH News hat mit der frisch gewählten «EU-Ethikerin», die an der UZH das Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte leitet, gesprochen.

Nikola Biller-Andorno, wie kam es dazu, dass Sie Mitglied der Europäischen Gruppe für Ethik der Naturwissenschaften und der neuen Technologien (EGE) wurden?

Nikola Biller-Andorno: Die Prorektorin Forschung der UZH, Elisabeth Stark, hat mich auf die Ausschreibung aufmerksam gemacht. Ich habe mich darum beworben und wurde auf Januar 2022 von der Präsidentin Ursula von der Leyen ernannt. Gestern Mittwoch fand die erste Sitzung der 15 Mitglieder statt.

Wie ist Ihr erster Eindruck?

Es ging vorerst ums gegenseitige Kennenlernen und darum, die Schwerpunkte der einzelnen Mitglieder zu erfahren. Ich freue mich sehr über diese Gelegenheit, schwierige ethische Fragen gemeinsam zu erörtern. Die Gruppe arbeitet in hohem Tempo und gibt mehrere Reports pro Jahr heraus, zuletzt zum Pandemie-Management und zum Genome Editing.

Welche Schwerpunkte werden Sie einbringen?

Aktuell steht sicher eine Nachlese zu Herausforderungen der Covid-19-Pandemie an, wie zum Beispiel das Contact Tracing, bei dem ein Abwägen zwischen dem Nutzen – Bekämpfung der Pandemie – und dem Schutz der Privatsphäre vorgenommen werden musste. Ich finde, dass wir uns in der Schweiz ganz gut durch die «ausserordentliche Lage» manövriert haben. Dass wir so robust durch die Pandemie gekommen sind, hat sicher auch mit der Schweizer Tradition der Partizipation zu tun – das ist ein Aspekt, den ich in der EGE einbringen möchte. In der Schweiz kann, wer interessiert ist, die ganzen politischen Vernehmlassungsprozesse zu neuen Gesetzen einsehen. Und wer möchte, kann seine Meinung einbringen – a new push for democracy in Europe: Das wünsche ich mir auch für die künftige Entwicklung der EU.

Wie könnte die EU direktdemokratischer werden?

Es muss ein Gesinnungswandel stattfinden, weg von «Die in Brüssel machen eh, was sie wollen». Den Bürgerinnen und Bürgern muss vermittelt werden, dass sie sich einbringen können und dass ihre Anliegen von den Entscheidungsträgern ernstgenommen werden. Das geht nur über eine gute Diskussionskultur. Moralische Schlammschlachten, wie sie während der Corona-Pandemie ausgetragen wurden – Impfgegner beziehungsweise Impfbefürworter sind alles Idioten! – bringen uns nicht weiter. Wir brauchen einen verstärkten Austausch zwischen den unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen. Der demokratische Diskurs muss die ganze Gesellschaft einbeziehen, auch jene Gruppierungen, die in einer «Blase» leben, Junge, Alte, alle. Ein breiter demokratischer Diskurs wappnet die Gesellschaft auch für kommende Krisen. Und führt letzten Endes zu gesellschaftlicher Resilienz. Es ist sehr wichtig, dass sich alle zu ethischen Fragen äussern können.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?

Die Reports, die die Europäische Ethik-Gruppe verfasst, werden bisher einfach auf dem Web aufgeschaltet. Ich finde, sie sollten einem viel breiteren Publikum bekannt gemacht werden. Wir müssen in der Vermittlung experimentierfreudiger werden – vielleicht kann man ein Thema auch mal als Graphic Novel darstellen und so unter die Leute bringen.

Wie bezieht man unterschiedliche Meinungen in den gesellschaftlichen Diskurs ein?

Indem man vielfältige Gelegenheiten zum Austausch bietet: Townhall-Gespräche sind eine gute Möglichkeit, in grossen Gruppen miteinander zu diskutieren. Online kann man oft auch Leute, die in ihrer abgeschotteten «social bubble» leben, dazu bringen, mitzudiskutieren. Aber auch reale Gesprächsangebote und Veranstaltungen mit Verantwortlichen oder mit Ursula von der Leyen sind eine Möglichkeit. Auch neue Formen wie Online-Games, ein Quiz zum Beispiel, können dazu anregen, die eigenen Argumente spielerisch darzulegen und zu diskutieren. Auch die Zusammenarbeit mit den Schulen könnten wir stärken. Gerade junge Schüler können gut mit einer Smartphone-App o.ä. angesprochen werden.

Welche Themen stehen aktuell auf der EU-Agenda ganz oben?

Der Klimawandel. One Health – also die Erkenntnis, dass die Gesundheit von Mensch und Tier nicht separat angeschaut werden sollte, sondern zusammenspielen; dass Mensch und Tier Ökosysteme bilden, die sich gegenseitig beeinflussen, Stichwort Antibiotikaresistenzen, Zoonosen, schwindende Artenvielfalt. Dann die Stärkung der gesellschaftlichen Resilienz: Wie kann eine Demokratie auch in Krisenzeiten robust bleiben? Ausserdem der demografische Wandel: Wie können ältere Generationen gut versorgt werden zu einem Preis, den wir uns leisten können. Nachhaltigkeit und Digitalisierung … der Themen sind viele!

Was möchten Sie persönlich unbedingt einbringen?

Ich finde die Frage, wie wir digitale Technologie nutzen, um unsere Gesundheit weiter zu verbessern, sehr wichtig. Wir haben ja bereits eine sehr gute Gesundheitsversorgung, doch verändern sich die Rahmenbedingungen laufend, und wir müssen immer wieder Anpassungen vornehmen, um weder in eine Überversorgung noch in eine Unterversorgung zu schlittern. Eine dieser Anpassungen wird meines Erachtens das digitale Krankendossier sein. Die Zukunft liegt sicher nicht in der Papierpatientenakte, die physisch herumgereicht oder gefaxt wird. Doch müssen wir die Frage klären: Wie schaffen wir mit der Digitalisierung den meisten Zusatznutzen? Wir brauchen eine digitale Patientenakte, die nicht nur eine Ablage, sondern eine Hilfe für bessere Behandlungen bietet, indem sich die digitalen Patientendaten intelligent nutzen lassen. Dabei sind das Vertrauen der Patientinnen und Patienten in die Betreiber und eine transparente Nutzung der Daten zentral.

Und wenn jemand kein digitales Krankendossier will?

Kein Bürger sollte gezwungen werden, eine digitale Datenakte anzulegen. Doch ist die Digitalisierung aller Gesellschaftsbereiche ein Megatrend, der sich nicht aufhalten lässt. Ich bin überzeugt, die Digitalisierung des Gesundheitswesens kann positiv ausfallen. Zum Beispiel indem die Patientinnen und Patienten stärker ins Geschehen in Krankenhäusern einbezogen werden. Bis jetzt werden ihre Erfahrungen im Gesundheitswesen nicht systematisch an die praktizierenden Ärztinnen und Ärzte weitergeleitet. Es braucht die Möglichkeit, als Patientin oder Patient online nach der Behandlung ein Feedback abzugeben. In Krankenhäusern muss eine aktive und positive Fehlerkultur aufgebaut werden, wo Feedbacks in der Runde besprochen werden und daraus gelernt wird.

Wie schätzen Sie Ihre Rolle als Schweizer Ethikerin in der Europäischen Ethik-Gruppe ein?

Das Herkunftsland der Mitglieder spielt keine Rolle. Ich finde es aber gut, Präsenz zu zeigen und zu sagen, wie wichtig den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der Schweiz die Zusammenarbeit und der Austausch mit den Forschenden der EU ist.

Wie sehen Sie die Chance, dass die Schweiz wieder voll bei den EU-Forschungsförderprogrammen von «Horizon Europe» dabei ist?

Ich bin zuversichtlich, dass wir mittelfristig dabei sein werden. Wir brauchen Brücken in die EU, und ich bin sehr froh, wenn ich eine Brückenfunktion einnehmen kann. Ich repräsentiere natürlich nicht die Schweiz. Aber ich bringe Schweizer Tugenden wie den föderalistischen Austausch und das Ausdiskutieren in die Ethikgruppe. Während der Pandemie mögen viele den Wunsch nach einem starken Chef verspürt haben, der sagt, wo es langgeht. Aber ich bin überzeugt: Es führt kein Weg daran vorbei, einen öffentlichen Diskurs zu führen, der etwas bringt. Einfach nur loszupreschen funktioniert bei der Einführung innovativer wissenschaftlicher Technologien nicht, wie das Beispiel der Grünen Gentechnik gezeigt hat. Die Prozesse müssen durchdacht werden; dazu braucht es Zeit und manchmal sogar ein Moratorium. Verantwortungsvolle Wissenschaft muss die Leute mitnehmen.