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Literaturwissenschaft

Widerspenstiges Insekt

Der Germanist Davide Giuriato betreibt literarische Insektenforschung. Unters Mikroskop geraten ist ihm dabei die Fliege, die eine erstaunliche literarische Karriere vom Bösewicht zum Darling gemacht hat.
Simona Ryser
Symboldbild Fliege
Aristoteles erledigte die Fliege in seiner Tierkunde in einem Satz und verbannte sie in das Reich von Tod und Ekel.

 

Gemeinhin, so denkt man, führt die Fliege ein nebensächliches literarisches Dasein. Eher taucht das lästige Tierchen just dann auf, wenn man sich gerade gemütlich in den Lesesessel zurückgezogen hat – und stört die Lektüre. Ssss und patch! Schon klebt das Insekt am Buchrücken. Doch spitzt man das Ohr und schärft den Blick, so surrt die Fliege noch immer und schwirrt gar ab und zu durch die Bücher der Weltliteratur.

«Der liebe Gott steckt im Detail», sagte der Kulturwissenschaftler Aby Warburg. Ausgestattet mit jenem Blick fürs Nebensächliche widmet sich der Germanist Davide Giuriato der «Mikrologie», wie er sagt, der Lehre des Kleinen und Winzigen. Diesen Blick hat er am Philosophen Walter Benjamin geschult. Die Herangehensweise ist eigentlich eine philologische, wie sie die Brüder Grimm mit ihrer Sprachforschung betrieben haben: Jedes noch so kleine Detail, jede Kommastelle verdient höchste Beachtung. Während die romantischen Zeitgenossen diese urphilologische Haltung noch abschätzig als «Andacht zum Unbedeutenden» verspottet haben, ist sie gut hundert Jahre später von Kulturtheoretikern wie Walter Benjamin und anderen ins methodologische Zentrum der modernen Kulturwissenschaften gerückt. Nicht in den augenfälligen, sondern in den unscheinbaren und nebensächlichen Dingen liegt ein besonderer Offenbarungswert für kulturelle Phänomene – so erklärt der italienische Mikrohistoriker Carlo Ginzburg in seinem berühmten Aufsatz über das »Indizienparadigma» diese Methode.

Aus Dreck geboren

Doch wie ist Davide Giuriato gerade auf die Fliege gekommen? Als Literatur und Kulturwissenschaftler interessiert sich der Professor auch für die Innovationen der Naturforschung. Als er sich mit der im 17.Jahrhundert aufkommenden Mikroskopie beschäftigte – kroch ihm die Fliege gewissermassen unter die Lupe. Die Möglichkeit der Vergrösserung erschloss den Forscheraugen der damaligen Zeit eine neue Welt. In welcher Pracht erschien da unter Glas die vermeintlich hässliche Fliege! Ein schillerndes, glänzendes, perfekt gebautes Tier!

Das war eine Zäsur in der Karriere der Fliege, erklärt Giuriato. Davor nämlich führte sie jahrtausendelang ein jämmerliches literarisches Dasein. Als Motiv mit Kot und Fäulnis behaftet, stand sie für die dunklen Abgründe in der Literatur. Es war Aristoteles, der das arme Tier in das Reich von Tod und Ekel verbannte. In seiner Tierkunde erledigte er die Fliegen in nur einem Satz: Sie kämen aus Maden in abgelegtem Mist. Ssss und patsch! Die Vorstellung der Spontangeburt aus dem Dreck besiegelte ihren schlechten Ruf. Ganz im Gegensatz zu den Bienen und den Ameisen, die sich dem Gemeinwohl unterordnen und mit ihrer Arbeitsteilung und dem Ordnungssinn zum Vorbild für die Gesellschaft taugen, führen die einzelgängerischen Fliegen ein scheinbar unnützes Leben.

Lustiges Doppelleben

Doch natürlich war die Fliege damit nicht aus dem kulturellen Gedächtnisverscheucht, ssss und patsch. Zwar ist sie durch Aristoteles’ Zuweisung motivisch mit Tod, Kot, Fäulnis und Abfall verbunden, in der Barockmalerei etwa wurde sie demgemäss zum Symbol der vanitas, der Vergänglichkeit. Gleichwohl war dem Insekt ein lustiges Doppelleben beschieden – und zwar in der rhetorischen Dichtung. Lukian, ein Sophist und Satiriker aus dem 2. Jahrhundert v. Chr., wählte nämlich just die Fliege für eine rhetorische Übung. Ein möglichst nichtswürdiger Gegenstand sollte Ausgangspunkt sein, um rhetorische Brillanz zur Schau zu stellen. Das niedrigste Geschöpf sollte derart gelobt werden, dass es zum höchsten wurde. Das Lob der Fliege wurde zu einem Paradestück, das bis in die Renaissance nachwirkte und in Leon Battista Alberti mit seiner Schrift «Musca. Über die Fliege» einen brillanten rhetorischen Nachahmer fand. So ward der verschmähten, ekligen Schmeissfliege dank der rhetorischen Tradition doch ein – wenn auch ironisch – gefeiertes Dasein vergönnt.

Gefährliche Biester

Die wahre Fliege kam aber erst dank dem Vergrösserungsglas ans Tageslicht. Erst unter dem Mikroskop konnte sie ungebrochen gewürdigt werden. Um der Insektenpoesie auf die Spur zu kommen, hat Giuriato beobachtet, wie das Wissen der Naturforscher auf die Literatur wirkt. Robert Hooke, der Mikroskopist und Mitbegründer der Royal Society, rühmt enthusiastisch den genialen Bau des Fliegenkörpers. Und auch der Dichter Barthold Heinrich Brockes, der in seinen Gedichten das Kleinste und Winzigste besingt, ein Staubkorn etwa oder einen Wassertropfen, preist die kleine Fliege. Was für eine Perfektion und Schönheit tut sich im subtilen Bau dieses Körperchens auf. «Wie so künstlich! ... / Müssen hier die kleinen Theile / In einander eingeschrenckt / Durch einander hergelenckt / Wunderbar verbunden seyn!» Vergrössert erscheint das Tierchen nun in voller Pracht und ganz im Sinne der göttlichen Schöpfung, die, wie der Philosoph Leibniz erklärt hat, eben auch im kleinsten Detail zweckmässig und ästhetisch ist.

Fliegen und Mücken können aber mitunter auch ganz schön gefährliche Biester sein. Davide Giuriato macht im 19. Jahrhundert eine weitere Zäsur im Curriculum der Fliege aus, die wiederum durch die Naturwissenschaft initiiert wurde: die Entdeckung der Bakterien. Nun gelten Fliegen und Mücken als Überträger von Krankheitserregern und können lebensbedrohende Seuchen auslösen. Literarische Figuren siechen dahin und erliegen den von den Tieren ausgelösten Infekten. So etwa in Luigi Pirandellos «La Mosca» (1922) oder in Robert Musils «Die Portugiesin» (1923). Nicht von ungefähr steht Musils «Fliegenpapier» (1913) unter dem Eindruck eines Industriezweigs, der im Zuge der Schädlingsbekämpfung im 19. Jahrhundert aufkommt: In dem kurzen Prosatext beschreibt Musil den Todeskampf des Insekts, das auf einem präparierten Klebestreifen der Marke «Tanglefoot» – einem der ersten namhaften Hersteller von Schädlingsbekämpfungsmitteln aus Nordamerika – kleben bleibt und verendet.

Anfang des 20. Jahrhunderts steigt die Fliege nochmals eine Karrierenstufe höher. Als 1910 die Drosophila melanogaster, die Tau oder Fruchtfliege, der Genetik zum Durchbruch verhalf, schien die verschmähte Fliege definitiv rehabilitiert. Mit dieser dritten Zäsur stieg sie zum gefragten Kultinsekt auf, sagt Davide Giuriato. Der US-amerikanische Genetiker und Biologe Thomas Hunt Morgan experimentierte in seinem Labor mit dem kleinen Tier. Nach mehreren Kreuzungsversuchen konnte er die grundlegende Struktur der Chromosomen aufzeigen und so den Grundstein zur modernen Genetik legen.

Ungesühnt töten

Die moderne Genforschung gab der Fliege, was ihr jahrtausendelang abgesprochen wurde: einen Zweck. Die Drosophila melanogaster ist der perfekte Modellorganismus für genetische und entwicklungsphysiologische Untersuchungen. Mit ihr kann bestens experimentiert werden: Sie lässt sich leicht züchten, ist billig und lässt sich scheinbar ungesühnt töten. Ausserdem reproduziert sie sich schnell und hat unglaublich viele Nachkommen. Sie ist sexuell höchst aktiv. Bereits 24 Stunden nach der Begattung legt das Weibchen bis zu 400 Eier ab, nach knapp 15 Tagen schlüpft schon die nächste Generation.

Aus einem Insekt des Todes ist ein Insekt der Lebendigkeit geworden. Endlich geriet sie vom Abseits ins Zentrum des Interesses. Im Zeichen dieser Entwicklung geistert das Tierchen nun mit neuen Gesichtern durch die kulturelle Produktion. Etwa als horribler Mutant in der Kurzgeschichte «The Fly» (1957) von George Langelaan und deren berühmter Verfilmung von David Cronenberg (1986). Dabei kommt es durch einen dummen Zufall zur Kreuzung eines Forschers mit einer Fliege, worauf die Genetik ihre Schreckensvisage zeigt. In Christoph Marthalers Bühnenstück «Die Fruchtfliege» (2005) geht es weniger um die Genetik als um die Laborsituation. Die Schauspieler tragen weisse Kittel und nähern sich gestisch immer mehr ihrem Forschungsobjekt an, werden selbst zu Fruchtfliegen. Tatsächlich hat der Wissenschaftshistoriker Robert Kohler in einer Studie beobachtet, wie die Forscher um Thomas Hunt Morgan, die jahrzehntelang an der Columbia University mit ihren «ExperimentTierchen» zusammen im Labor hausten, mit ihnen mehr und mehr eine Art Symbiose eingingen, sie respektierten und sich mit ihnen emotional identifizierten.

Davide Giuriatos Bibliothek zur Fliegenliteratur umfasst ganze vier Regalmeter, wobei sie nicht nur eine Vielzahl, sondern auch eine grosse Vielfalt von Texten enthält. Die Fliegenliteratur kann man nicht über einen Leisten schlagen, sagt der literarische Insektenforscher, der an einer Studie zu diesem Thema arbeitet. Tatsächlich ist zwar die aristotelische Spur, die Fliegen mit Verwesung, Tod und Ekel assoziiert, hartnäckig und wirkungsmächtig. Doch die Fliegenliteratur ist viel heterogener und längst nicht immer mit dem Tod verknüpft. Vielmehr ist das Auftauchen der Fliege in der Literatur unberechenbar. Immer wieder surrt es, wo wir es nicht erwarten.

Die literarische Fliege sei weniger ein symbolisches als ein diabolisches Tier, sagt Giuriato. Will heissen, sie ist zwar nicht des Teufels, doch ganz nach dem Wortsinn des griechischen dia-ballein – Dinge aus oder durcheinanderbringen –, taucht sie dort auf, wo Ordnungen auseinandergeraten. Grauslich grinst Cronenbergs Fliegenforscherfratze. Die Fliege verhält sich anarchisch und geht auf unberechenbaren Wegen. Um der Insektenpoesie auf die Spur zu kommen, muss man sich auf die Willkür ihrer Wege und Spuren einlassen.

Und so lauschen wir dem sonoren Sssss, wenn das Tier kreuz und quer an unserem Kopf vorbei und durch die Literatur surrt.

Dieser Artikel ist im UZH Magazin 3/19 erschienen.

 

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