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Ringvorlesung

Von wild zu zahm

Eine Ringvorlesung beschäftigt sich im Herbstsemester mit der Domestikation von Tieren und Pflanzen. Der Paläontologe Marcelo Sánchez hat die Veranstaltung mitorganisiert. In seiner Forschung geht er der Frage nach, ob sich der Mensch auch selbst domestiziert hat.
Adrian Ritter

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Wenn Wildtiere die Scheu vor dem Menschen verlieren: Eine Ringvorlesung widmet sich im Herbstsemester dem Thema Domestikation. (Bild: zVg)

Am Anfang war der Wolf. Zwischen 15'000 und 30'000 Jahre ist es her, dass er sich behutsam dem Menschen annäherte. Er verschlang seine Essensreste und hielt gleichzeitig andere Feinde von den Menschen fern. «Der erste Schritt zur Domestikation ist, dass Mensch und Tier die Angst voreinander verlieren», sagt Marcelo Sánchez, Professor für Paläoontologie an der UZH. Er hat gemeinsam mit Professor Marcus Clauss von der Vetsuisse-Fakultät die Ringvorlesung «Aus der freien Wildbahn in die Zivilisation: Die Domestikation des Lebens» organisiert. (vgl. Kasten)

Rund 30 Tierarten und 50 Pflanzenarten

Als die Menschen in der neolithischen Zeit vor rund 10'000 Jahren sesshaft wurden, folgten dem Wolf weitere Tierarten, die domestiziert wurden. In Europa waren es Ziegen, Kühe, Schafe oder Katzen, in anderen Weltgegenden Lamas, Kamele oder Meerschweinchen. Rund 20 Tierarten gelten heute als domestiziert. Mit dem Ackerbau begann der Mensch gleichzeitig, Getreidearten und andere Pflanzen per Zucht an seine Bedürfnisse anzupassen – auch dies eine Form der Domestikation. So gibt es heute mehr als 50 Pflanzenarten, die sich deutlich von ihren Wildformen unterscheiden.

Behutsame Annäherung

Bei der Domestikation von Tieren ging die Initiative oft von diesen und nicht vom Menschen aus, sagt Sánchez. Beispiel Katze: Die Lagerung von Getreide zog im Neolithikum Mäuse an, die wiederum Wildkatzen anzogen – und dem Menschen im besten Fall die Pest ersparten, indem sie die Mäusepopulation dezimierten. «Allerdings darf man die Entwicklung nicht zu sehr aus dem Blickwinkel von Fortschritt und Kausalität betrachten», warnt Marcelo Sánchez: «Oft ergaben sich solche Vorteile erst mit der Zeit. Im Vordergrund stand zuerst, dass sich Mensch und Tier überhaupt tolerieren.» Die Auslese bestimmter wünschenswerter Merkmale durch Zucht begann erst später.

Wege der Domestikation

«Domestizierte Tiere und Pflanzen erlauben uns, die Evolution besser zu verstehen. Die künstliche Auslese hat nämlich zu Veränderungen geführt, die man sonst nur in geologischen Zeiträumen dokumentieren kann», sagt Sánchez.

Schon Charles Darwin beobachtete und beschrieb im 19. Jahrhundert gewisse Muster der Domestikation. So stellte er etwa fest, dass domestizierte Formen meist kleiner sind als ihre Wildformen. Gemäss Marcelo Sánchez erklärt man sich dies heute so: Weil die domestizierten Tiere in der Nähe des Menschen leichter zu Nahrung gelangen, können sie sich besser fortpflanzen und haben mehr Nachkommen pro Wurf. Weil die Muttertiere trotzdem nur begrenzte Ressourcen haben, müssen diese auf mehr Nachkommen verteilt werden – entsprechend ist das einzelne Jungtier kleiner.

Marcelo Sanchez
Entwicklung in Richtung Zahmheit: UZH-Paläontologe Marcelo Sánchez untersucht die parallele Veränderung des Verhaltens und der Morphologie im Laufe der Evolution. (Bild: Adrian Ritter)

Ethische Aspekte der Domestikation

In jüngster Zeit hat insbesondere die Genomik mit ihren DNA-Analysen dazu beigetragen, besser zu verstehen, wann und wo welche Tier- und Pflanzenarten domestiziert wurden. Klar ist: Die Domestikation führte zuerst zu einer grösseren Biodiversität. Manchmal entstanden aus den Wildformen neue Arten, manchmal verschiedene Unterarten oder auch Kreuzungen von wilden und domestizierten Formen (Hybridisierung). Immer aber unterscheiden sich die domestizierten Formen deutlich von den Wildformen. Aus dem Wolf entstanden beispielsweise mehrere Hundert Hunderassen.

Erst mit der Industrialisierung nahm die Diversität bei bestimmten Tierarten wieder ab, weil etwa gewisse Nutztiere für die Massenproduktion bevorzugt wurden. Im Rahmen der Ringvorlesung werden auch solche ethischen Aspekte der Domestikation beleuchtet – bis hin zu Auswüchsen wie Qualzuchten bei Hund und Katze.

Wie der Hund, so der Mensch?

Ein Referat der Ringvorlesung widmet sich einer neuen These in der Domestikations-Forschung – der «Self-Domestikation» des Menschen. Die These besagt, dass beim Menschen im Laufe der Evolution eine ähnliche Entwicklung wie bei domestizierten Tieren stattgefunden hat. So wie der Mensch die Wildtiere nach deren Zahmheit auszulesen und zu züchten begann, wurde auch der Mensch selber im Laufe der Evolution «zahmer» – im Sinne von kooperativer. «Auch hier fand eine Art Selektion statt», sagt Marcelo Sánchez: «Das konnte soweit gehen, dass aggressive Individuen aus der Gruppe ausgeschlossen wurden. Oder aber sie fanden seltener einen Partner, um sich fortzupflanzen.»

Interessanterweise veränderte sich im Laufe der Evolution aber nicht nur das Verhalten. Auch das äussere – morphologische – Erscheinungsbild entwickelte sich so, dass domestizierte Tiere wie auch der Mensch mit der Zeit weniger aggressiv wirkten. So lässt sich etwa bei Hund wie Menschen sehen, dass mit der Zeit das Gesicht kürzer, die Zähne kleiner wurden.

«Vielleicht lässt sich die Veränderung des Verhaltens und der Morphologie auf denselben Ursprung zurückführen», sagt Marcelo Sánchez. Die Lösung des Rätsels könnte in der Neuralleiste liege – einer embryonalen Anlage bei Wirbeltieren, die sich später unter anderem zu Teilen des Skeletts und zu Organen ausbildet. In der Entwicklung des Embryos steuert die Neuralleiste sowohl die Ausbildung des Hormonsystems – und damit auch des Verhaltens – wie auch morphologische Ausprägungen wie die Form der Zähne und des Gesichts.

Hühner im Vergleich

Inwiefern die Neuralleiste das Verhalten und das Aussehen bei Wildtieren und domestizierten Tieren unterschiedlich steuert, wird das Team um Marcelo Sánchez jetzt in einem neuen Forschungsprojekt des Schweizerischen Nationalfonds untersuchen. Die Forschenden werden dazu die Entwicklung der Neuralleiste beim asiatischen Bankivahuhn – einer Wildform – und beim Haushuhn vergleichen.

«Die Forschung zur Domestikation hat bisher vor allem aus Genom-Analysen bestanden. Mit unserem Projekt wollen wir die bisherigen Erkenntnisse um eine entwicklungsbiologische Perspektive erweitern», sagt Sánchez.

Die Geschichte der Domestikation war nach der neolithischen Zeit übrigens nicht abgeschlossen. Auch später hat der Mensch vereinzelt wieder Tiere domestiziert  – um 500 nach Christus etwa das Kaninchen.