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Lebensende

Erzählen im Angesicht des Todes

Die Eigentümlichkeiten von Erzählungen am Lebensende sind bisher selten in den Blick gekommen. Im Rahmen eines Vertiefungsprojekts des Nationalen Forschungsprogramms «Lebensende» haben Forschende der Theologischen Fakultät zu einer interdisziplinären Forschungstagung zu diesem Thema eingeladen.  
Susanne Altoè und Franzisca Pilgram-Frühauf
Wer bin ich gewesen? Erinnern und Erzählen prägt das Lebensende.  (Bild: Wikimedia)

«So schön wie hier kann’s im Himmel gar nicht sein!» So hat der auch in Zürich bekannte Film-, Theater- und Opernregisseur Christoph Schlingensief sein «Tagebuch einer Krebserkrankung» überschrieben, verfasst nach der Diagnose Lungenkrebs. Wütend und trotzig, traurig und verzweifelt, aber immer doch im Vertrauen auf die Kraft der eigenen Sprache umkreist er die Fragen, die schwere Krankheiten in besonderer Weise aufzwingen: Wer bin ich gewesen? Was kann ich noch werden? Wie die verbleibende Lebenszeit gestalten? Wie sterben?

Das seit Anfang 2013 laufende und neu mit der Professur Spiritual Care von Professor Simon Peng-Keller verbundene Forschungsprojekt «Sterbenarrative» widmet sich der Aufgabe, die symbolische Kommunikation des Vertrauens am Lebensende genauer zu verstehen, um Sterbende besser begleiten zu können. Es handelt sich um ein Vertiefungsprojekt des Nationalen Forschungsprogramms «Lebensende» (NFP 67) des Schweizerischen Nationalfonds.

An der Tagung waren Forschende dazu eingeladen, sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Erzählungen am Lebensende auseinanderzusetzen. Die Beiträge der drei Tagungsblöcke näherten sich dem Begriff «Sterbenarrativ» aus narratologischer, theologisch-ethischer und seelsorgerisch-klinischer Sicht, um ihn begrifflich zu schärfen und auch kritisch zu hinterfragen.

Abgerundete Lebensgeschichte

Der erzähltheorische Blick auf eine Vielzahl von Einzelerzählungen aus Literatur und Online-Plattformen liess erkennen, dass viele Erzählungen dem Grundmuster der abgerundeten Lebensgeschichte folgen. In Anbetracht dieser gesellschaftlich wirksamen Vorstellungen von narrativer Geschlossenheit und Selbstbestimmung am Lebensende warnten einige Referenten aus theologisch-ethischer Perspektive vor der Gefahr, Wünsche mit der Wirklichkeit zu verwechseln, idealisierende und ästhetisierende Sterbeerzählungen als Norm zu fixieren und das «gute Sterben» zum Anspruch zu erheben.

Referate aus der Perspektive von Seelsorge, Spiritual Care/Palliative Care und Medical Humanities  zeigten auf, wie dringlich die Aufgabe ist, gerade für die Ambivalenzen und Inkonsistenzen von Sterbeerzählungen hellhörig zu werden, offen zu bleiben für die individuellen Möglichkeiten und Grenzen narrativer Ausgestaltung des Lebens und Sterbens. Sterbenarrative sind nur im Plural wahrzunehmen – gegen die Versuchung geschlossener Modelle, die in allen Disziplinen zu finden sind.

Glücksversprechen der Kindheit

Vom Wunsch, sich selbst zu Ende zu erzählen, handelte auch der Eröffnungsvortrag des Basler Philosophen Emil Angehrn. Erzählungen stifteten in der zeitlichen Abfolge von Ereignissen sinnhaft Zusammenhang. Man müsse sich aber auch stets im klaren darüber sein, dass es sich um nachträgliche sprachliche Konstruktionen handle, gab Anghern zu bedenken. Als solche befähigten sie aber zur Selbsterforschung und Selbstkritik, und sie stärkten die persönliche Identität.

Autobiographien seien von jeher vom existentiellen Anliegen getragen, mit sich selbst eins werden. Angehrn betonte eine doppelläufige Durchdringung autobiographischen Erzählens vom Ende und vom Ursprung her: In der Begegnung mit der Endlichkeit lasse sich erzählender- und erinnernderweise das Glücksversprechen der Kindheit zurückgewinnen.

Erzählen über den Tod hinaus

Die Referate regten Diskussionen an: Führt das letzte Kapitel eine Lebensgeschichte zur Vollendung oder bricht im Gegenteil alles, was einem Menschen im Laufe seines Lebens lieb und vertraut geworden ist, auseinander? Sterbenarrative sind fragil, ambivalent. In anthropologischer Hinsicht bleibt die Spannung zwischen dem Wunsch, das Leben selbst erzählen zu können, und dem leidvollen Verstummen-Müssen. Die Aufgabe von Seelsorge und Spiritual Care liegt demnach darin, Menschen von der Vorstellung zu befreien, das Leben allein zu Ende erzählen zu müssen. Was am Ende bleibt, ist die Verheissung, dass das Erzählen über den Tod hinaus weitergeht: als Weiter- und Neuerzählen des gelebten und erzählten Lebens.