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Neues Förderinstrument Doc.CH

Wenn Grundrechte auf der Strecke bleiben

In der Europäischen Union drohen wegen der komplizierten Gerichtsbarkeit manche Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) unter den Tisch zu fallen. Die UZH-Juristin Elisa Ravasi untersucht, wo Lücken entstehen. Der Schweizerische Nationalfonds (SNF) unterstützt ihre Dissertation mit dem neuen Förderinstrument Doc.CH. Fünf der kürzlich vom SNF vergebenen 17 Beiträge gingen an UZH-Forschende.
Thomas Müller
Spürt mit Unterstützung des neuen Förderinstruments Lücken in der Umsetzung der Menschenrechte in der EU auf: Doktorandin Elisa Ravasi.

«Die EU tritt die Menschenrechte sicher nicht mit Füssen», betont Elisa Ravasi. Dennoch gebe es zuweilen Fälle, in denen die Gesetzgebung der Europäischen Union die Grundrechte einer Person oder eines Unternehmens in ihren Mitgliedsländern verletze und gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstosse.

EU-Richtlinie unzulässig

Ein Beispiel dafür, wie die Grundrechte zwischen Stuhl und Bank fallen können, ist das französische Unternehmen Biret, das sich auf den Import von Rindfleisch aus den USA spezialisiert hatte. Die Firma ging im Dezember 1995 in Konkurs, nachdem EU-Richtlinien ein Importverbot für Rindfleisch mit bestimmten hormonellen Substanzen durchgesetzt hatten. Die Richtlinien betrafen in erster Linie Ware aus Nordamerika.

Biret beanstandete, das Importverbot verletze den von der EMRK garantierten Schutz seines Eigentums, weil eine derart harte Massnahme nicht durch das öffentliche Interesse gerechtfertigt sei. Tatsächlich bezeichnete die Welthandelsorganisation WTO einige Jahre später die fraglichen Richtlinien als unzulässig, weil sie restriktiver als international anerkannte Grenzwerte waren.

Im rechtlichen Dickicht steckengeblieben

Dennoch wies der Europäische Gerichtshof in Luxemburg Birets Schadenersatzforderung ab. Die kafkaesk anmutende Begründung: Die Firma habe bereits Konkurs gemacht, bevor die Widerrechtlichkeit der Richtlinien festgestellt worden sei. 

Biret wandte sich darauf an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. Obwohl die Namen der beiden Gerichte zur Verwechslung Anlass bieten, handelt es sich um recht unterschiedliche Instanzen. Luxemburg ist das höchste Gericht der Europäischen Union mit ihren 28 Mitgliedstaaten. Strassburg hingegen wacht über die Einhaltung der EMRK in den 47 Mitgliedsländern des Europarats, dem beispielsweise auch Russland, die Türkei oder die Ukraine angehören.

Doch dieses Gericht liess Biret ebenfalls abblitzen. Es prüfte gar nicht erst, ob es sich um eine Verletzung der EMRK handelte, sondern berief sich lapidar auf die sogenannte Gleichwertigkeitsvermutung, die es einst selbst aufgestellt hatte. Demnach ist in der Regel davon auszugehen, dass die EU-Länder beim Vollzug des EU-Rechts die EMRK-Anforderungen einhalten. Strassburg betrachtet sich also nur in jenen Ausnahmefällen als zuständig, in denen eine grobe Menschenrechtsverletzung durch EU-Recht im Einzelfall offensichtlich ist. Und das ist bislang kaum je vorgekommen.

Vier Rechtsbereiche im Fokus

Bietet das EU-Recht im Rechtsalltag einen mindestens gleichwertigen Schutz wie die EMRK? In der Wissenschaft seien Zweifel daran laut geworden, sagt die Doktorandin: «Studien weisen eine Tendenz nach, dass die EU-Mitgliedstaaten versuchen, bei neuen Richtlinien die Mindeststandards der EMRK aufzuweichen», so Ravasi. Das kann in zwei Phasen vorkommen: Einerseits bei der Schaffung der Richtlinie im europäischen Gesetzgebungsprozess, andererseits auch bei der Umsetzung dieser Richtlinie auf nationaler Ebene.

In ihrer Dissertation untersucht Ravasi die Praxis der beiden Gerichtshöfe in Luxemburg und Strassburg. Sie erarbeitet eine Darstellung, unter welchen Voraussetzungen in Strassburg die Gleichwertigkeitsvermutung zum Zuge kommt, mit der sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vermeintlicher Bagatellfälle entledigt.

Die Doktorandin nimmt vier Bereiche des EU-Rechts unter die Lupe: erstens die Verfahrensrechte im Wettbewerbsrecht, zweitens das Namensrecht im Privatrecht, drittens den strafrechtlichen Grundsatz «ne bis in idem», wonach niemand für die gleiche Tat doppelt bestraft werden darf, und viertens den Menschenrechtsschutz von Individuen bei der internationalen Terrorismusbekämpfung. Dabei untersucht sie konkrete Einzelfälle und prüft, ob die EMRK verletzt worden ist. Eine Lücke bei der Umsetzung der EMRK ist dann identifiziert, wenn Strassburg solche Fälle unter Hinweis auf die Gleichwertigkeitsvermutung nicht materiell behandelt hat.

EU will der EMRK beitreten

Ein zweites Themenfeld spielt dabei mit: Wer eine EMRK-Verletzung rügt, kann auch bei EU-weiten Erlassen nur gegen einen Mitgliedsstaat vorgehen. Gegen die EU selbst lässt sich hingegen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg nicht Beschwerde führen. Denn die EU hat bis heute die EMRK nicht unterzeichnet – sie konnte das gar nicht, weil diese Möglichkeit nur einzelnen Staaten offenstand. Seit 2010 ist die EMRK ergänzt, ein Beitritt ist möglich. Delegationen von EU und EMRK haben inzwischen einen Beitrittsvertrag ausgehandelt. Doch bis zum Vollzug eines Beitritts verstreichen voraussichtlich noch mehrere Jahre.