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Kolloquium für Psychotherapie und Psychosomatik

Wie uralte Muster heutige Normen prägen

Mit einem fulminanten Referat hat der Psychotherapeut Mario Etzensberger am Montag das Kolloquium für Psychotherapie und Psychosomatik am Universitätsspital Zürich eröffnet. Er zeigte auf, wie Mythen heutige Verhaltensregeln prägen und plädierte für eine psychotherapeutische Praxis, die sich dem Zeitgeist entgegenstellt.
Melanie Keim

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Mario Etzensberger: «Sodom und Gomorrha, Amor oder Narziss haben mehr mit unserer heutigen Realität zu tun, als wir gemeinhin glauben.»

Athene, Seraphim, Sodom und Gomorrha, Amor oder Narziss. Diese Namen sind uns geläufig, womöglich auch die Geschichten und Mythen dahinter. Doch was haben diese  griechischen Götter, mythischen Gestalten und biblischen Figuren mit unserer heutigen Realität zu tun? Mehr als wir gemeinhin glauben, sagte Mario Etzensberger in seinem Vortrag an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. Der Psychotherapeut, der lange die Psychiatrischen Klinik Königsfeld leitete, sieht in unserer heutigen Realität eine stetige Wiederholung alter Geschichten und Muster und umgekehrt in diesen «alten Hüten» einen wichtigen Schlüssel für heutige Verhaltensmuster.

Auseinandersetzung mit Geschichte

«Alles, was ich Ihnen heute erzähle, ist Plagiat», stellte Mario Etzensberger klar und fügte an: «Es gibt nur wenig wirklich Neues». Und zwar gelte das für die Gesellschaft, die Wissenschaft wie für das Individuum. Neben der biblisch geprägten linearen Zeitvorstellung wies Etzensberger auf eine kreisförmige Vorstellung von Zeit hin. Auf erfrischende Art und Weise zeigte er, wie uralte Geschichten, Rituale und Mythen stets wiederkehren und daher auch in unserer heutigen Kultur präsent sind. So findet er die im Gilgamesch-Epos zentrale Suche nach Unsterblichkeit bei Darth Vader aus Star Wars wieder. Oder er zeigte die Freiheitsstatue als perfektes Abbild des «Sol invictus», des unbesiegbaren Sonnengottes aus der römischen Mythologie. Heutige gesellschaftliche Normen, Handlungsmuster und Geschichten, die uns prägten, seien also keineswegs neue Erfindungen, sondern uralte Muster in neuer Form. Wenn wir diese historische Realität jedoch nicht mehr kennten oder nicht kennen wollten, so verschliesse sich damit auch ein wichtiger Zugang zu unserer ganz individuellen Geschichte.

Für die therapeutische Praxis habe diese Auseinandersetzung mit Kultur und Geschichte zwei wichtige Funktionen: Einerseits werde ein auf dem Menschen lastender Gesellschaftsdruck sichtbar und fassbar, was Verständnis und Akzeptanz für die eigenen Handlungsmuster und das damit verbundene Leiden schaffe. Wenn ein Patient etwa an einem übermässigen Perfektionismus leidet, so schafft das Bewusstsein, dass diesem Verhaltensmuster uralte gesellschaftliche Muster zugrunde liegen, bereits Erleichterung. Andererseits können diese Geschichten auch als Exempel unterstützend wirken, wie etwa der Hinweis, dass auch Jesus auf dem Weg zum Kreuz dreimal fiel.

Eklektizismus als Konsequenz

Aus diesem stetigen Wiederkehren des Alten folgt Etzensbergers zweites Grundprinzip: das eklektische Arbeiten. So will er sich nicht auf eine einzige, Wahrheit oder Methode festlegen, sondern dem bereits vorhandenen Rüstzeug stets neues, kritisch Geprüftes hinzufügen. Für Etzensbergers Werdegang heisst das in Stichworten: Faszination für griechische Sagen, die Offenbarungen Jung und Freud, der Übergang vom Hypothetisieren zu häufigen Laboruntersuchungen, das Anfreunden mit der Verhaltenstherapie. Aus diesen Erfahrungen hat sich seine heutige, eklektische therapeutische Praxis gebildet.

Dieses akkumulative Verfahren fordert Etzensberger auch von seinen Patienten. Alte Verhaltensmuster, die eine Patientin als störend und negativ empfindet, sollen nicht wie ein alter Zopf abgeschnitten werden, sondern durch neue ergänzt werden. Das Handelsinstrumentarium einer Person wird so erweitert. Etzensberger betrachtete das lange Zeit als notwendige Konsequenz der uns aufgeladenen Geschichte, was im Grunde Resignation bedeutete. Heute ist er aber der Überzeugung, dass «störende» Verhaltensweisen durchaus als schöne Muster betrachtet werden können. Eine Patientin soll ihren als «störend» empfundenen Perfektionismus also ruhig als «schönes» Muster behalten, das es wie im Grimmschen Märchen «Sechse kommen durch die ganze Welt» gezielt einzusetzen gilt. Schliesslich wurde auch der schiefe Turm von Pisa nur durch seinen «Makel» überhaupt berühmt.

Ein voller Werkzeugkasten

Damit stellt Etzensberger weniger aktuelle psychotherapeutische Ansätze in Frage, sondern vorherrschende Tendenzen in unserer Gesellschaft und Wissenschaft wie absolute Wahrheitsansprüche. Auch stellt er sich mit der geforderten Aufhebung einer klaren Wertung einem zunehmenden Bedürfnis unserer Gesellschaft nach festen Normen und klaren Kategorien wie «schön» und «gut» entgegen. Doch auch diese in Wissenschaft und Gesellschaft sichtbaren Muster seien weder neu noch per se schlecht. Allerdings könne es nicht schaden, ihnen mit einem kritischen Blick und dem vollen Werkzeugkasten, den die Wissenschafts- und Kulturgeschichte liefere, zu begegnen.