Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Politikwissenschaft

In der Quotenfalle

Immer mehr Länder führen Quoten für politische Gremien ein. Die Quoten sollen die Repräsentation etwa von ethnischen Minderheiten oder Frauen verbessern. Der Politikwissenschaftler Nenad Stojanovic betrachtet die Entwicklung mit Skepsis. In seiner Dissertation plädiert er für flexiblere Massnahmen.
Adrian Ritter
Nenad Stojanovic: Quoten zementieren die Unterschiede, statt sie zu relativieren.

Die Regierung von Rwanda hat eine Frauenquote von 50 Prozent für das nationale Parlament vorgeschrieben, Indien kennt Quoten für Frauen und benachteiligte Kasten, Australien eine Quote für Maori. «Weltweit werden für Parlamente und Regierungen vermehrt Quoten eingeführt», stellt Nenad Stojanovic fest. Der Politikwissenschaftler ist Lehrbeauftragter der Universität Zürich und forscht am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), zu dessen Trägerschaft auch die UZH gehört.

Gravierende Nachteile

Sind solche Quoten sinnvoll? In seiner Dissertation «Dialogue sur les quotas» lässt Stojanovic drei fiktive Protagonisten das Pro und Kontra von Quoten diskutieren. Dies führt den Autor zu folgendem Fazit: Es ist zwar wichtig, dass die Heterogenität der Gesellschaft in den politischen Gremien abgebildet ist. Quoten allerdings haben gravierende Nachteile.

Erstens schränken sie die Wahlfreiheit ein und behaupten zu Unrecht, dass ein Mensch sich nur durch seinesgleichen vertreten fühlen kann. «Ein katholischer Schwarzer kann sich unter Umständen auch von einer weissen jüdischen Frau im Parlament repräsentiert sehen», so Stojanovic.

Zweitens bilden Quoten immer nur einen Aspekt der Identität ab und zementieren dessen Bedeutung, was dem Zusammenhalt der Gesellschaft schädlich sein kann. Ein Beispiel: In den Kantonsparlamenten von St. Gallen und Aargau wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Quoten für Katholiken und Protestanten eingeführt. Der neu sich bildende Bundesstaat verzichtete 1848 allerdings darauf, solche Quoten auf nationaler Ebene einzuführen.

Irrelevante Frage

Aus der Sicht von Stojanovic war das die richtige Entscheidung: «Hätte die junge Eidgenossenschaft die Quote für Katholiken und Reformierte übernommen, wäre die religiöse Spaltung in der Schweiz viel länger bedeutungsvoll geblieben.» Heute wisse kaum jemand, wie viele Katholiken und Reformierte im Bundesrat vertreten sind – die Frage sei schlicht irrelevant.

Als dritten Nachteil von Quoten sieht Stojanovic die Einschränkung der individuellen Freiheit. Quoten zwingen Menschen, sich auf einer bestimmten Identitätsachse einzuordnen und sich zu einer Gruppe zu bekennen. Am abschreckendsten ist für Stojanovic das Beispiel des Südtirols in Italien. Dort müssen die Bürgerinnen und Bürger ihre ethnische Zugehörigkeit in einem staatlichen Register erfassen lassen, um eine öffentliche Stelle anzunehmen oder sich wählen zu lassen.

Der Listenplatz entscheidet

«Quoten sollten wenn möglich vermieden und ansonsten nur zeitlich begrenzt eingesetzt werden», sagt Stojanovic. Vorzuziehen seien flexiblere Massnahmen. Wie solche aussehen können, erläutert er am Beispiel einer der seltenen Quoten, die in der Schweiz existieren.

Die Verfassung des Kantons Bern sieht vor, dass dem Regierungsrat immer mindestens ein Vertreter des französischsprachigen bernischen Jura angehören muss. Aus der Sicht von Stojanovic eine unnötige Regelung: «In anderen mehrsprachigen Kantonen wie Graubünden und Fribourg sind Minderheiten bei den Regierungsrastwahlen auch ohne Quote selten untervertreten.»

Als bessere Lösung für die Vertretung des bernischen Jura sieht er die parteiinterne Bevorzugung entsprechender Kandidaten, indem die Parteien diese auf ihren Wahllisten weit oben platzieren und doppelt aufführen.

Diskriminierung nachweisen

Dasselbe Vorgehen empfiehlt er, wenn Frauen in politischen Gremien stark untervertreten sind. In der Schweiz sei heute eine Frauenquote unnötig, da die Landesregierung kürzlich sogar mehrheitlich aus Frauen bestand und deren Anteil auch im Parlament steige.

Anders beurteilt er den Fall der Verwaltungsräte von bundesnahen Betrieben wie SBB und Post. Stojanovic begrüsst die vom Bundesrat kürzlich beschlossene – nicht zwingende – Zielquote von mindestens 30 Prozent für jedes Geschlecht: «In diesen Gremien sind Frauen schon lange und immer noch stark untervertreten.»  Eine verbindliche, aber zeitlich befristete Quote in bundesnahen Betrieben würde Stojanovic gutheissen, wenn erwiesen ist, dass männerdominierte Gremien Frauen im Wahlprozess systematisch diskriminieren.

Tradition der Sensibilität

Für die politischen Gremien in der Schweiz seien solche Massnahmen aber unangebracht. «Die Schweiz kennt eine lange Tradition der Sensibilität für politisch untervertretene gesellschaftliche Gruppen und die landeseigenen Minderheiten – bei ausländischen Minderheiten und religiösen Gruppen sieht es manchmal etwas anders aus», so Stojanovic.

In einem Forschungsprojekt hat er die sprachregionale Zusammensetzung des Bundesrates in den letzten 165 Jahren untersucht. Dabei zeigte sich, dass die einzelnen Landesgegenden und Sprachregionen auch ohne Quote fast immer gut vertreten waren – weil die Bundesversammlung freiwillig darauf Rücksicht nahm.

Gespaltene Ethno-Demokratie

Weltweit gesehen aber führen immer mehr Staaten Quoten für ihre politischen Gremien ein. Auffällig oft beobachtet Stojanovic das Phänomen in den jungen Demokratien Osteuropas. Besonders rigide Quoten gibt es in Bosnien-Herzegowina. Dort dürfen seit Kriegsende 1995 gemäss der neuen Verfassung die drei «konstituierenden Völker» – Bosniaken, Kroaten und Serben – das Staatspräsidium und die Sitze in der zweiten Parlamentskammer unter sich aufteilen.

«Bosnien-Herzegowina ist eine Ethno-Demokratie, in der ethnische Parteien seit 1990 erstaunliche Erfolge verbuchen», so Stojanovic. Dem Zusammenhalt war dies nicht förderlich: «Die Spaltung des Landes ist nach zwanzig Jahren grösser als zuvor.»

Was die Quoten in Bosnien-Herzegowina anbelangt, so hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sie 2009 gerügt. Die Dreiteilung der Macht widerspreche den Menschenrechten, weil sie Minderheiten wie Juden, Roma und Albaner von der politischen Partizipation ausschliesse.

Abschied von der liberalen Demokratie

Auf der Gemeinde-Ebene versuchte Bosnien-Herzegowina dieses Problem mit noch mehr Quoten zu lösen: Das Wahlgesetz schreibt seit dem Jahr 2008 vor, in lokalen Parlamenten neben den drei «konstituierenden Völkern» auch Quoten für 17 offiziell anerkannte Minderheiten einzuhalten.

In einem Forschungsprojekt im Auftrag des Schweizerischen Nationalfonds hat Stojanovic die Auswirkungen untersucht. Fazit: Nur wenige Gemeinden setzen das Gesetz überhaupt um. Dort, wo dies geschieht, kommen die Anliegen der Minderheiten nicht besser zur Geltung.

Hinzu kommt, dass offiziell nicht anerkannte Minderheiten weiterhin vom politischen Leben ausgeschlossen sind. Für sie werden jetzt ebenfalls Quoten diskutiert, was aus der Sicht von Nenad Stojanovic absurd ist: «Wenn man einmal in der Quotenfalle ist, kommt man kaum mehr raus und bewegt sich immer weiter weg von einer liberalen Demokratie.»

Wahlkreise statt Ethnien

In seiner Studie plädierte Nenad Stojanovic für eine Abkehr von ethnischen Quoten in Bosnien-Herzegowina. Stattdessen könnten territoriale Quoten die ethnische Heterogenität des Landes indirekt widerspiegeln. Die Idee entspricht dem System in der Schweiz: Die italienischsprachige Bevölkerung hat keine garantierte Sitzzahl im nationalen Parlament, wohl aber der Kanton Tessin – wie alle anderen Kantone auch. Indirekt haben damit die Italienischsprachigen eine Garantie, ihre Vertretung selber zu bestimmen.

Direkte Demokratie wagen

Zusätzlich würde Stojanovic die Einführung von Elementen der direkten Demokratie in Bosnien-Herzegowina begrüssen. Die Möglichkeit, ein Referendum gegen ein Gesetz zu ergreifen, würde den Bürgerinnen und Bürgern auf lokaler Ebene etwa erlauben, über die ethnischen Grenzen hinweg zusammenzuarbeiten.

Dass solches möglich ist, zeigen gemäss Stojanovic auch die derzeitigen Proteste gegen korrupte Politiker in mehreren bosnischen Städten. Dabei formulieren die Protestierenden über ethnische Grenzen hinweg in Bürgerforen ihre Anliegen.

Die Gräben überwinden

Im Rahmen eines Projektes im Auftrag der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) hat der Politikwissenschaftler seit 2008 mitgeholfen, die politischen Akteure in Bosnien-Herzegowina vermehrt miteinander ins Gespräch zu bringen.

Diskutiert wurde unter anderem, wie eine neue Verfassung für das Land aussehen könnte. Die gegenwärtige, auf dem Abkommen von Dayton basierende Verfassung erachtet Stojanovic als wenig geeignet als Basis einer stabilen, gesunden Demokratie. Zu sehr bevorzuge das Grundgesetz Parteien, die einzelne Ethnien vertreten. «Wichtig wäre, dass auch in Bosnien-Herzegowina multiethnische Parteien entstehen. Nur sie werden vermutlich in der Lage sein, die tiefen Gräben zu überwinden», so Stojanovic.