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100 Jahre Erster Weltkrieg

Gilberte de Courgenay und die Frauen im Ersten Weltkrieg

Das Lied vom Soldatenidol «La petite Gilberte» wurde berühmt, und der Film über die Kellnerin aus dem jurassischen Dorf Courgenay ein Kassenschlager. Doch das täuscht darüber hinweg, dass die Rolle der Frauen im Ersten Weltkrieg historisch bislang wenig erforscht ist. Nun legt Béatrice Ziegler, UZH-Titularprofessorin für Geschichte, neue Erkenntnisse in Buchform vor.
Thomas Müller

«Im Ersten Weltkrieg packten die Frauen dort an, wo es zu tun gab»: Historikerin Béatrice Ziegler.

Der Film «Gilberte de Courgenay» von 1941 zeigt die Titelheldin als liebenswerte, fürsorgliche Tochter eines Gastwirts, die sich im Ersten Weltkrieg rührend um die Soldaten kümmert. Wie repräsentativ ist dieses Bild?

Praktisch jeder Schweizer und jede Schweizerin sah damals den überaus erfolgreichen Film. Der Streifen hat die Menschen erreicht, nicht zuletzt dank dem überzeugenden Spiel von Anne-Marie Blanc. Er bot ihnen Identifikationspotenzial und gab Orientierung in einer unsicheren Zeit. Zugleich zementierte das Werk männlich-hegemoniale Vorstellungen über die Rolle der Frau in der Gesellschaft: Liebevoll dienen soll sie und sich selber zurücknehmen zu Gunsten des Mannes, der Soldaten, des Staats und der Armee.

Über das Leben der Frauen im Ersten Weltkrieg sagt «Gilberte de Courgenay» so gut wie nichts aus, es handelt sich um ein Propagandaprodukt der Geistigen Landesverteidigung im Zweiten Weltkrieg.

Man wollte die Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg auf eine Schweizer Schicksalsgemeinschaft in diesem Land einschwören und bediente sich dafür einer beliebten Figur aus dem Ersten Weltkrieg?

Historische Mythen waren hilfreich bei der Geistigen Landesverteidigung. Denn man liess es auch nicht an klaren Vorgaben für das Verhalten der Einzelnen fehlen. Modernität, etwa Frauen, die berufstätig sein wollten, hatten da nichts zu suchen. Die soziale Zerrissenheit und Streiks, die das gesellschaftliche Leben und den Staat lahmzulegen drohten – so jedenfalls sah man im Rückblick die Kriegsjahre bis 1918 – wollte man um jeden Preis vermeiden. Dabei verschwieg man, dass es zur Zeit des Ersten Weltkriegs um mehr gegangen war: auch um unterschiedliche politische Konzepte, um neue Gesellschaftsmodelle.

Absolut falsch kann das Bild der Soldatenmutter aber nicht gewesen sein. Es entstanden im Ersten Weltkrieg ja viele Soldatenstuben.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sich die Frauenorganisationen neue Felder erschlossen. Sie widmeten sich sozialen Fragen. Auch bürgerliche Männer unterstützten diese Wohltätigkeit, nicht zuletzt wohl auch als Mittel, um die Frauen von einer Erwerbstätigkeit fernzuhalten. Sie nahmen insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg in kommunalen Sozialbehörden und Schulbehörden Einsitz – sie waren auf kommunaler Ebene teilweise in solche Gremien wählbar, hatten aber selber kein aktives Stimm- und Wahlrecht.

Im Ersten Weltkrieg packten die Frauen dann dort an, wo es zu tun gab. Ohne dass ihnen die Politik einen formellen Auftrag erteilt hätte, schufen die Frauenorganisationen organisatorisch breit aufgegleist eine Vielzahl von Soldatenstuben, die Verpflegung, alkoholfreie Getränke und einen Wäschedienst anboten. 

Also doch liebevoll dem Manne dienend und sich selber zurücknehmend?

Eher selbstbewusst einen wichtigen Beitrag in der Gesellschaft leistend. Ein relevanter Teil der Frauenorganisationen verstand die soziale Tätigkeit als relevanten, staatstragenden Beitrag, der ebenso bedeutsam war wie jener der Männer. Dieser Anspruch wurde schon bei der nationalen Frauenspende formuliert, mit der Frauenorganisationen ihren Beitrag an die Kosten des Kriegs leisten wollten, im Gegenzug aber die Forderung nach dem Frauenstimm- und -wahlrecht erhoben. Es kam eine Million Franken zusammen. Der Bundesrat nahm zwar das Geld entgegen, setzte es aber für soziale Zwecke ein – und wies die Frauen damit zurück auf ihre bisherige Rolle.

Doch das Frauenstimmrecht war auch eine der Forderungen des Landesstreiks von 1918.

Und 1919 wurde dieselbe Forderung auf eidgenössischer Ebene mit zwei Motionen erhoben. Urheber des einen Vorstosses war ein Sozialdemokrat, der Zürcher Arbeiterführer Herman Greulich, der zweite stammte von einem Vertreter der staatstragenden FDP, dem Juristen Emil Göttisheim, der zu den führenden Freisinnigen in Basel gehörte. Die Vorstösse fanden eine Mehrheit und der Bundesrat wurde beauftragt, sie umzusetzen.

Doch diese Phase der Offenheit sollte nur kurz dauern, bis der aufgeschlossene Flügel der Freisinnigen intern unterlag und sich die Partei mit den Katholisch-Konservativen zum Bürgerblock zusammenschloss.  Das Frauenstimmrecht wurde schubladisiert. 1959 erfolgte endlich eine Volksabstimmung, in der das Anliegen der Motionäre mit Zweidrittelsmehrheit abgelehnt wurde. Bekanntlich dauerte es noch weitere 22 Jahre, bis das Frauenstimmrecht 1971 angenommen wurde.

1918 führten Deutschland, England, Österreich und Polen das Frauenstimmrecht ein, 1919 Belgien, die Niederlande und Schweden, 1920 die USA. Warum dauerte es in der Schweiz so lange?

Viele Staaten waren in ihren Grundfesten erschüttert, zumindest teilweise untergegangen. Für einen Neuanfang war es wichtig, eine möglichst breite Legitimationsbasis zu schaffen. So bezog man die Frauen mit ein. In der Schweiz hingegen war das politische System nicht wirklich in Frage gestellt. Der Landesstreik von 1918 verunsicherte zwar, doch mit dem Schulterschluss zwischen Freisinn und Katholisch-Konservativen war wieder Stabilität hergestellt. Mit dieser soliden Grundlage erübrigte sich eine Beteiligung der Frauen am politischen System.

Lange war der Erste Weltkrieg generell kaum ein historisches Forschungsthema, die Geschlechtergeschichte dieser Zeit war wohl vollends eine Marginalie. Auf welche Quellen konnten Sie sich für Ihre Publikation «Der vergessene Krieg – Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg» stützen?

Über den Alltag der Frauen im Ersten Weltkrieg weiss man nach wie vor relativ wenig. Gewisse Überlieferungen sind aus Briefen bekannt, doch das Briefeschreiben war vor allem in bürgerlichen Familien gebräuchlich, deren Nachlässe glücklicherweise meist aufbewahrt worden sind.

Aus anderen sozialen Schichten ist weniger bekannt. Die Gesellschaft funktionierte damals geschlechtergetrennt und die Tätigkeit der Frauen wurde nicht als historisch relevant erachtet, so dass Aufzeichnungen weitgehend fehlen. Eine Ausnahme sind Archive von Vereinen, Frauenvereinigungen und teilweise politischen Parteien. Deshalb bezieht sich das Wissen auf den sichtbaren Beitrag der Frauen zur Landesverteidigung, mit dem sie das Funktionieren der Gesellschaft und die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Landes sicherstellten.

Für unser Buch haben wir nicht Quellen zum Ersten Weltkrieg erschlossen, sondern uns auf die Überlieferungen in der Geschichtskultur abgestützt. Wie der Titel «Der vergessene Krieg – Spuren und Traditionen zur Schweiz im Ersten Weltkrieg» zeigt, liegt der Fokus des Buchs auf den geschichtskulturellen Überlieferungen allgemein, die Geschichte der Frauen ist darin eine Perspektive.