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Religionswissenschaft

Die Reise zum Sinn

Sommerzeit ist Reisezeit. Manche Formen des Reisens haben mehr gemeinsam, als man denkt – etwa Backpacking und Pilgern. Der Religionswissenschaftler Tommi Mendel hat für seine Film-Dissertation eine Rucksackreisende durch Südostasien und eine Wandererin auf dem Jakobsweg begleitet. Mit diesem Artikel verabschiedet sich UZH News in die Sommerpause. Anfang August melden wir uns mit neuen Geschichten aus der Universität Zürich zurück.
Adrian Ritter
Unterwegs, um sich und die Welt neu zu entdecken: Religionswissenschaftler Tommi Mendel hat für seinen Film «Common roads» eine Backpackerin (im Bild) und eine Pilgerreisende mit der Kamera begleitet. Hier der Trailer. (Video: Tommi Mendel, Tigertoda)

Rund 100 Stunden Film hat Tommi Mendel für seine Dissertation gedreht. Zuerst begleitete er Aniña, die gerade ihr Studium beendet hatte und fünf Wochen auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela wanderte. Im Jahr danach war er sechs Wochen mit der jungen Rucksacktouristin Lea in Thailand, Kambodscha und Laos auf Achse. Es muss ein beeindruckendes Bild gewesen sein: Eine Reisende mit Sack und Pack, begleitet von einem Wissenschaftler auf Feldforschung – mit Sack, Pack und Kameraausrüstung.

Mendel war aber nicht nur während der Reise präsent, er dokumentierte auch die Vorbereitungen und den Prozess der Rückkehr der beiden Reisenden mit der Kamera. Ein aufwändiger und strapaziöser Weg zum Doktortitel. Wegen einer Anschwellung der Achillessehne musste Tommi Mendel das Projekt auf dem Jakobsweg fast abbrechen.

Die Kamera kann mehr

Aber die Mühe hat sich gelohnt. Seine Dissertation in der Form des Dokumentarfilms «Common roads» ist eine sehenswerte Analyse heutiger Reisekultur. Schon seine Lizentiatsarbeit verfasste Mendel in der Form eines Films (vgl. Kasten). Auch diesmal war für ihn klar, dass eine reine Fragebogenerhebung dem Thema nicht gerecht wird.

«Eine Reise ist mit intensiven Begegnungen, Anstrengungen und Emotionen verbunden. Vieles davon spielt sich auf der nonverbalen Ebene ab und ist nur schwer mit Worten zu beschreiben. Eine Kamera kann etwa Mimik, Gestik und Handlungen aufzeichnen und der Analyse zugänglich machen.» (mehr zur Methodik lesen Sie hier).

Als Schatten mit dabei: Tommi Mendel filmt Aniña (rechts im Bild) auf ihrer fünfwöchigen Reise auf dem Jakobsweg.

Der vermeintliche Gegensatz

Tommi Mendel hat sich in seiner Dissertation das Ziel gesetzt, die Gemeinsamkeiten von Pilgerreise und Backpacking herauszuarbeiten. Askese versus Hedonismus? Tiefgründig versus oberflächlich? Mendel misstraut dem oft zu hörenden Gegensatz der beiden Reisearten: «Es ist zu einfach, Pilgerreisen in den Bereich der Religion und Backpackerreisen in die Kategorie Tourismus einzuordnen», schreibt er im Begleittext zum Film.

Der 95–minütige Film zeigt eindrücklich, wie viel die beiden Arten des Reisens gemeinsam haben. Das reicht von der Sozialstruktur der Reisenden über ihre Motivation bis zur Art des Unterwegsseins und den Erfahrungen, die sie dabei machen.

Jakobsweg wie Backpacking ziehen dasselbe heterogene Publikum an, wie Mendel in der wissenschaftlichen Literatur, in Tourismus-Statistiken und auf der Reise selber feststellte: Etwa zu gleichen Teilen Frauen wie Männer aus postindustriellen Nationen, mit unterschiedlichsten Bildungs- und Berufshintergründen. Viele von ihnen befinden sich in einer Übergangssituation – Aniña beispielsweise hat ihr Studium abgeschlossen, Lea ihres unterbrochen.

Selbstbestimmte Spiritualität

Wissensdurst, Abenteuerlust und der Wunsch, das Leben zu entschleunigen und etwas für die Gesundheit zu tun, treiben Pilger wie Backpacker an. Oft dient die Reise auch der Selbstfindung und Sinnsuche. Dass Aniña ohne religiöse Motivation auf dem «Camino» (Jakobsweg) unterwegs war, ist für Mendel durchaus repräsentativ: «Sowohl unter Caminoreisenden wie Backpackern sind explizit religiöse Motive nur selten anzutreffen.»

Beide Gruppen von Reisenden interessieren sich aber für nicht-institutionalisierte Formen der Spiritualität. Die Caminoreisenden begeistern sich etwa für die Bücher von Paulo Coelho, die Backpacker in Asien für Meditationskurse und buddhistische Retreats.

Beide Formen des Reisens können deshalb gemäss Mendel mit ihrer Suche nach Sinn durchaus als religiöse Praxis bezeichnet werden: «Sie widerspiegeln das Bedürfnis von Menschen in postindustriellen Gesellschaften, neue und selbstbestimmte Formen von Religiosität und Spiritualität zu finden.»

Feldforschung im wahrsten Sinn des Wortes: Religionswissenschaftler Tommi Mendel bei der Arbeit.

Der Boom

Das Bedürfnis danach scheint gross zu sein, denn beide Reisearten boomen. Der Jakobsweg quer durch Europa erlebt seit den 1980er Jahren einen Aufschwung. In Kambodscha und Laos sind seit der politischen Öffnung der beiden Länder in den 1990er Jahren immer mehr Backpacker unterwegs.

Der Boom hat gemäss Mendel auch mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Herkunftsländern der Reisenden zu tun. Beide Reisearten sind heute gesellschaftlich angesehen, bequem und finanziell erschwinglich.

Unterwegs mit der «Familie»

Dass Reisende bei ihrer Sinnsuche auch tatsächlich neue und ausserordentliche Erfahrungen machen, hat gemäss Mendel vor allem mit zwei Faktoren zu tun. Erstens: Die Freiheit, seine Tage fern der Alltagswelt selbst bestimmen zu können. Zweitens: Die Mühelosigkeit, Bekanntschaften mit Menschen aus aller Welt zu schliessen und sich als Teil einer internationalen Gemeinschaft zu fühlen. Viele Caminoreisende wie Backpacker, die Mendel angetroffen und interviewt hat, erleben die Mitreisenden als «Familie».

Egalitär ist diese Familie deswegen allerdings nicht. Die Reisenden geniessen ein unterschiedlich hohes Ansehen. Der «Road Status» steigt, wenn folgende Kritierien erfüllt sind: mehr und längere Reisen gemacht, entferntere Länder besucht, mit weniger finanziellen Mitteln unterwegs gewesen und mehr Strapazen durchgestanden.

Erste Begegnung: Nach ihren Reisen sichten Aniña (links) und Lea das Filmmaterial. 

Selbstbestimmt unterwegs sein und sich doch als Teil einer Familie fühlen: Auch Lea und Aniña beschreiben im Film dieses Glücksgefühlt. Aber es hat ein Ende. Die Rückkehr in den Alltag ist oft ernüchternd, stellt Mendel fest. Die unterwegs geschlossenen Freundschaften können selten aufrechterhalten werden. Die Vorsätze, etwa im Alltag mehr Langsamkeit zu leben, lassen sich nur schwer umsetzen. Von diesen Erfahrungen berichteten übereinstimmend auch Lea und Aniña, als Tommi Mendel sie ein Jahr nach ihren Reisen traf. Es war die erste Begegnung zwischen der Backpackerin und der Pilgerin.