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Europäische Menschenrechtskonvention

«Eine Verbindung ohne Verfalldatum»

Vor 40 Jahren trat die Schweiz der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei. Der Geburtstag wird begleitet von kritischen Stimmen insbesondere zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Bundesrätin Simonetta Sommaruga trat der Kritik in einer Rede an der UZH entgegen.
Adrian Ritter
Mehr Gelassenheit gefordert: Bundesrätin Simonetta Sommaruga verteidigt die Europäische Menschenrechtskonvention gegen Kritik. (Foto: Adrian Ritter)

Zuletzt hat das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) bezüglich einer afghanischen Flüchtlingsfamilie zu reden gegeben. Diese dürfe nicht ohne weitere Abklärungen nach Italien ausgeschafft werden, beschied das Gericht in Strassburg den Schweizer Behörden. Kritiker monierten, damit werde das Dublin-Abkommen überflüssig.

  Die Feststimmung hält sich in Grenzen, wenn die Schweiz derzeit 40 Jahre Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) feiert. Insbesondere der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wird auf der politischen Bühne gerade heftig kritisiert: Er habe bei seiner Auslegung der EMRK eine ausufernde Praxis entwickelt, die beim Beitritt zur Konvention nicht absehbar war. Zudem sei der Beitritt 1974 nicht demokratisch legitimiert worden und mit dem Gerichtshof unterwerfe sich die Schweiz fremden Richtern.

Aufgeblähte Kritik

Bundesrätin Simonetta Sommaruga trat den Vorwürfen am Donnerstagabend in einem Referat an der UZH entgegen. «Begründete Kritik an der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist wichtig und nötig», stellte die Vorsteherin des Justiz- und Polizeidepartements klar. Auch das Schweizerische Bundesgericht sei nicht immer einig mit den Urteilen des EGMR – das dürfe und solle auch so sein.

Es gebe aber keinen Anlass, die Kritik aufzublähen – zumal von den eingereichten Beschwerden gegen die Schweiz nicht einmal zwei Prozent erfolgreich seien. Aus der Kritik am Gerichtshof den Schluss zu ziehen, die Schweiz solle aus der Europäischen Menschenrechtskonvention austreten, sei nicht nachvollziehbar.

Auslegung muss dynamisch sein

Die Rechtsprechung des EGMR habe sich in den letzten 40 Jahren in der Tat stark entwickelt, so die Bundesrätin. Das sei aber vorhersehbar gewesen und dem Parlament bewusst gewesen, wie die Debatte im National- und Ständerat zu Beginn der 1970er-Jahre zeige.

Bereits die Präambel der EMRK spreche ausdrücklich von der «Fortentwicklung» der Menschenrechte und Grundfreiheiten. So wie das Bundesgericht die Grundrechte dynamisch auslege, müsse dies auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte tun – weil sich die Gesellschaft verändere: «Wie sollen heutzutage das Recht auf Sicherheit oder das Recht auf Achtung des Privatlebens garantiert werden, wenn wir die Gefahren, denen wir durch die modernen IT-Technologien ausgesetzt sind, nicht berücksichtigen?»

Ungenutzte Referenden

Den Vorwurf, der Beitritt der Schweiz zur EMRK sei nie demokratisch beschlossen worden, liess die Bundesrätin ebenfalls nicht gelten. Als die Schweiz die Konvention unterzeichnete, war der Beitritt noch nicht dem Staatsvertragsreferendum unterstellt. Zudem wäre in der Zwischenzeit anlässlich der Ratifizierung von wichtigen Zusatzprotokollen zur EMRK jeweils ein Referendum möglich gewesen – ein solches sei nie ergriffen worden.

Einen weiteren Hinweis auf die Zustimmung der Bevölkerung zur EMRK gebe auch die 1999 revidierte Bundesverfassung. Deren Katalog der Grundrechte sei nicht zuletzt von der Rechtsprechung des EGMR geprägt, und die Verfassung vom Volk in der Abstimmung angenommen worden.

Fremde Richter?

Es sei für sie auch nicht nachvollziehbar, in Bezug auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte von fremden Richtern zu sprechen: «Ist uns ein Richter, der sich mit der Wahrung der Menschenrechte befasst, wirklich fremd?» Es sei doch eine zivilisatorische Errungenschaft, wenn die europäischen Staaten gemeinsam eine Institution einsetzen, die die Würde des Menschen sichern soll.

Noch bis heute im Lichthof der UZH zu sehen: Schülerinnen und Schüler des Literargymnasiums Rämibühl setzen das Thema Menschenrechte künstlerisch um. (Foto: Adrian Ritter)

Subsidiarität stärken

Bundesrätin Sommaruga plädierte für mehr Selbstsicherheit und Gelassenheit gegenüber der Konvention und dem Gerichtshof. Die Konvention bilde den Grundwertekonsens innerhalb Europas ab. Besonders wichtig sei sie bei schweren, systematischen Menschenrechtsverletzungen. «Es darf aber weder Aufgabe noch Ziel des EGMR sein, das höchste europäische Schutzniveau zum Massstab zu machen.» So habe der Gerichtshof etwa das französische Gesetz, welches die Burka aus dem öffentlichen Raum verbannen soll, für menschenrechtskonform erklärt.

Die Konvention müsse eine subsidiäre Funktion haben, so die Bundesrätin. Grundsätzlich seien die einzelnen Staaten für die wirksame Anwendung der Konvention verantwortlich – erst dann der Gerichtshof in Strassburg. Der Grundsatz der Subsidiarität solle weiter gestärkt werden, sagte Sommaruga. Die Schweiz habe deshalb massgeblich zu einem neu vorgelegten Zusatzprotokoll beigetragen.

Historische Errungenschaft

Der Bundesrat sei überzeugt, dass die Konvention und der Gerichtshof ihre grosse historische Aufgabe, den Rechtsstaat und die Menschenrechte zu wahren und wo nötig zu stärken, nur erfüllen können, wenn sie in ganz Europa eine hohe Legitimität geniessen. Ein Austritt der Schweiz aus der Konvention stehe für den Bundesrat daher ausser Frage. Eine Schwächung der Konvention schwäche auch die Schweiz, die darauf angewiesen sei, dass in Europa Stabilität und Rechtsstaatlichkeit herrschen. Die Schweiz solle ein Aushängeschild des Grundrechtsschutzes sein: «Die Menschenrechte gehören zur Schweiz, wie die direkte Demokratie oder der Föderalismus. Die Schweiz und die EMRK – das ist eine Verbindung ohne Verfalldatum.»

Das Referat fand im Rahmen des Seminars 40 Jahre Beitritt der Schweiz zur EMRK des Europa Instituts an der UZH statt. Die Ausstellung «Kunst und Menschenrechte» (noch bis 28.11. im Lichthof des Hauptgebäudes der UZH) fand als Zusammenarbeit des Kompetenzzentrums Menschenrechte der UZH mit dem Literargymnasium Rämibühl statt.