Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Medizinische Abschlussprüfung

Simuliertes Leid

Letzte Woche legten 220 Medizinstudierende der UZH ihre letzte Prüfung ab. Auf den praktischen Teil der Abschlussprüfung des Medizinstudiums hatten sich nicht nur die Studierenden intensiv vorbereitet, sondern auch die «Patienten»: Sie wurden von Schauspielern dargestellt.
Melanie Keim
Gespielter Schmerz: Pflegeexpertin und Schauspieltrainerin Jutta Bisaz (rechts) schult einen Patientendarsteller. (Bild: Melanie Keim)

«Herr Bauer, was führt Sie hierher?», fragt die Frau im weissen Kittel den älteren Herrn, der ihr gegenüber am Besprechungstisch sitzt. Herr Bauer seufzt erst tief und beginnt dann langsam von seinem Leiden zu erzählen. Man nimmt ihm jedes Wort ab. Doch Herr Bauer ist nur eine fiktive Figur, dargestellt von einem Schauspieler. Er sitzt im Untersuchungszimmer 177 des Careum 2 gegenüber von Jutta Bisaz, Pflegeexpertin und Schauspieltrainerin der UZH, um seinen Auftritt als Patient Bauer an der eidgenössischen praktischen Prüfung Humanmedizin zu proben.

Überall derselbe Patient

Vor zwei Jahren wurde das medizinische Staatsexamen, bei dem die Prüfungshoheit noch bei den einzelnen Hochschulen lag, durch die eidgenössische Prüfung Humanmedizin ersetzt, die (abgestützt auf das Medizinalberufegesetz MedBG) gesamtschweizerisch ein hoch standardisiertes Prüfungsverfahren vorschreibt.

Seither führen die Medizinstudenten bei ihrer praktischen Abschlussprüfung keine Anamnese an echten Patienten mehr durch, sondern an sogenannten standardisierten Patienten, die von gesunden Laien- und Profischauspielern gespielt werden. Ob in Lausanne, Bern, Genf, Basel oder Zürich: Jeder Medizinstudierende soll die exakt gleiche Prüfungssituation vorfinden, was nicht nur gleiche Krankheitsbilder, sondern im Grunde auch identische Patienten verlangt.

Zwischen dem 2. und 4. September, den Prüfungstagen der praktischen Prüfung, erzählte Herr Bauer also in fünf verschiedenen Städten in mehreren Prüfungszimmern parallel von seinem Leiden, während die Anamnese der Medizinstudierenden vom jeweiligen Prüfungsexperten nach klar definierten Kriterien bewertet wird

Positive Erfahrungen nach anfänglicher Skepsis

Doch welchen Mehrwert hat der Einsatz von Schauspielerin? Wie authentisch können  Schauspieler Patienten überhaupt darstellen? «Vor 15 Jahren habe ich zum ersten Mal vom Einsatz von Schauspielpatienten gehört. Damals dachte ich, dass so etwas unmöglich funktionieren kann», erzählt Ernst Jünger, der an der UZH für die Rekrutierung und das Training der Schauspielpatienten zuständig ist.

Nach ersten Erfahrungen mit standardisierten Patienten hat der studierte Mediziner mit Theaterbackground seine Meinung schnell revidiert – und nicht nur er. «Sowohl Studierende als auch Professoren standen dem Einsatz von Schauspielern anfangs skeptisch gegenüber. Inzwischen wird die neue Prüfungsform aber äusserst positiv bewertet und keineswegs als künstlich, sondern vor allem als fairer aufgefasst», meint Jünger.

Naturgemäss gab es früher vom Krankheitsbild über die Patienten bis hin zur Beurteilung der Prüfer enorme Unterschiede, da aus den aktuellen Patienten des Universitätsspitals Zürich ausgewählt werden musste. Weil die Kandidaten nur zwei oder drei Anamnesen statt der heutigen zwölf durchführen mussten, spielte das Glück früher eine besonders grosse Rolle.

Achtzig Schauspieler im Einsatz

Jünger zählt weitere Vorteile der neuen Prüfungsform auf, dass tatsächlich Leidende nun nicht mehr zusätzlich belastet werden müssen und nun auch schwere psychiatrische Fälle geprüft werden können.

Doch die neue Prüfungsform hat auch eine Kehrseite: Der Einsatz von standardisierten Patienten generiert von der Rekrutierung über das Training bis hin zur Koordination der Schauspieler einen grossen Planungsaufwand. An der UZH sind dieses Jahr über 80 Schauspieler im Einsatz, damit die 220 Medizinstudierenden, die dieses Jahr ihre Abschlussprüfung antreten, je zwölf Patienten untersuchen können.

Der Pool an Schauspielern ist jedoch mit momentan 120 Beteiligten um einiges grösser, schliesslich müssen Ernst Jünger und Jutta Bisaz jede Rolle, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im Frühling zuschickt, passend besetzen können – und dies meist fünffach. Dabei sind nicht nur schauspielerische Fähigkeiten, Geschlecht, Alter und Gewicht der Schauspieler relevant, auch kleine körperliche Details wie Narben gilt es zu beachten, da diese die Studierenden unter Umständen auf eine falsche Fährte locken könnten.

Unerwartete Zwischenfälle

Von falschen Fährten weiss auch die Laienschauspielerin Diomira Sloksnath eine Geschichte zu erzählen. Bei einem Einsatz an einer Probeprüfung fragte ein Student für einmal nicht wie gewöhnlich nach dem Alter, sondern nach dem Jahrgang der Patientin, worauf Sloksnath nicht vorbereitet war. «Ich brauchte einen Moment um den Jahrgang der Person auszurechnen, was natürlich ein völlig falsches Signal gab. Wenn jemand nicht einmal seinen Jahrgang nennen kann, dann liegt die Vermutung selbstverständlich bei Demenz», erzählt Sloksnath.

Die unangenehme Situation verlief schliesslich glimpflich, da die Patientin alle Folgefragen sofort beantworten konnte. Seither weist Sloksnath ihre Schauspielkolleginnen bei den Gruppenproben jedoch stets auf den Jahrgang der gemeinsam gespielten Patientin hin. «Der Austausch und die gegenseitige Beobachtung bei den Proben sind enorm wichtig», meint Sloksnath. Obwohl das Skript, das die Schauspieler erhalten, sehr detailliert ist – je nach Komplexität des Krankheitsbildes kann es bis zu acht Seiten lang sein – tauchen immer wieder unerwartete Fragen, wie diejenige nach dem Jahrgang, auf.

Fünfmal oder zehnmal Husten

In solchen Fällen müssen die Schauspieler improvisieren, rasch eine Antwort finden, die zum Patient und dem Krankheitsbild passt. In den Gruppentrainings gilt es solche Situationen vorwegzunehmen und den Interpretationsspielraum, der trotz der klaren Antwort auf die Einstiegsfrage, genauen Angaben zu Beschwerden, Familiensituation und Gewohnheiten bei jeder Rolle besteht, so weit als möglich zu minimieren. So werden im Untersuchungszimmer des Careums neben vorgegebenen Antworten und Schmerzreaktionen auf die Untersuchung auch Finessen wie Charakterzüge oder die Körperhaltung eines Patienten eintrainiert, so dass die Figur des Herrn Bauer allen Prüfungskandidaten ähnlich betrübt und gleich zögerlich antworten wird.

Damit die Zürcher Patienten gleich wie in Basel oder Genf gespielt werden, verhandeln die Ausbildner der einzelnen Fakultäten an Standardisierungstreffen sogar jede einzelne Rolle anhand von Videos, bestimmen, ob bei einer Lungenentzündung nun eher fünf oder zehnmal gehustet werden soll. «Eine totale Standardisierung kann selbstverständlich nie erreicht werden», meint Ernst Jünger. «Doch wir versuchen uns daran anzunähern.»