Navigation auf uzh.ch

Suche

UZH News

Latein-Obligatorium

Lebhafte Debatte über eine alte Sprache

Was bringt ein Latein-Obligatorium? Für welche Studienfächer soll es in Zukunft noch gelten? Die Frage weckt Emotionen – wie ein Podiumsgespräch an der Universität Bern zeigte, an dem auch Vertreter der UZH teilnahmen.
Adrian Ritter
Latein: Welche Rolle soll es in Zukunft an den Universitäten spielen?

Medienberichte über Latein sind eine Seltenheit. Meist wird die ehemalige europäische «Lingua franca» in der Öffentlichkeit nur dann zum Thema, wenn ihr Stellenwert an Schulen und Universitäten revidiert wird. So etwa im vergangenen Sommer, als die Philosophische Fakultät der Universität Basel beschloss, von Studierenden der Geschichte in Zukunft auch auf Masterstufe keine Lateinkenntnisse mehr zu verlangen.

Kurz darauf folgte die Philosophische Fakultät der Universität Zürich mit dem gegenteiligen Entscheid: Für Studierende der Philosophie, Anglistik und Kunstgeschichte gilt weiterhin das Latein-Obligatorium.

Entsprechend vielfältig präsentiert sich heute das gesamtschweizerische Bild der verlangten Lateinkenntnisse an den Universitäten: Die UZH kennt bei rund 30 Studienrichtungen ein Latein-Obligatorium. Die Universität Luzern hingegen verlangt für keines ihrer Fächer Lateinkenntnisse – bei allerdings deutlich kleinerem Fächerangebot.

Die Tendenz jedoch ist überall dieselbe: Latein verliert in der Wissenschaftswelt an Bedeutung. Auch Gymnasiastinnen und Gymnasiasten entscheiden sich immer seltener für Latein als Unterrichtsfach.

Ein Podiumsgespräch der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) an der Universität Bern bot am Dienstag Gelegenheit, die Ursachen und Folgen dieser Entwicklung zu diskutieren.

Für jedes Fach einzeln entscheiden, ob ein Latein-Obligatorium nötig ist: Philosoph Hans-Johann Glock (links) und Ägyptologe Antonio Loprieno. 

Auf Fachebene entscheiden

Hans-Johann Glock, Professor für Philosophie an der UZH, stellte auf dem Podium fest: «In der Lehre und Forschung der meisten geisteswissenschaftlichen Fächer spielt Latein heute keine Rolle mehr.» Es sei ein Mythos, dass Latein eine besonders logische Struktur aufweise und daher die allgemeine Denkfähigkeit fördere.

Das Argument, der Lateinunterricht vermittle über die Sprache hinaus Wissen zur europäischen Kultur und Geschichte, liess Glock nicht gelten. Entsprechende Kenntnisse seien zwar unabdingbar für ein geisteswissenschaftliches Studium. Sie liessen sich aber in den entsprechenden Fächern selber besser vermitteln.

Ein Latein-Obligatorium widerspreche zudem den Erkenntnissen der Lern- und Motivationspsychologie: «Man lernt nur effizient und nachhaltig, was einen interessiert und was man auch wirklich brauchen und anwenden kann.»

Glock wollte seine Ausführungen nur als Plädoyer gegen ein allgemeines Latein-Obligatorium in den Geisteswissenschaften verstanden haben. In einzelnen Fächern wie etwa mittelalterlicher Geschichte oder Französisch mache die Latein-Pflicht durchaus Sinn.

Es sollte daher Sache jedes einzelnen Faches sein, darüber zu entscheiden, ob es Lateinkenntnisse voraussetzen wolle. Dazu müsse aber zunächst der Beweis erbracht werden, dass Lateinkenntnisse für das jeweilige Fach unabdingbar seien. Was das Studium der  Philosophie anbelange, so sei Latein keineswegs eine notwendige Voraussetzung. Können Tiere denken? Gibt es einen freien Willen? Zur Erörterung solcher Fragen sei Latein weniger wichtig als etwa naturwissenschaftliche Vorkenntnisse. In Fächern ohne Obligatorium sollten motivierte Studierende aber freiwillige Latein-Kurse besuchen können, so Glock. 

«Wer Latein lernt, setzt sich mit einer fremdartigen Kultur und Denkweise auseinander», sagte Anglistin Virginia Richter.

Interesse für die Antike wecken

Dass Latein-Kenntnisse etwa für die Anglistik sehr wichtig sind, betonte Virginia Richter, Professorin für Moderne Englische Literatur an der Universität Bern: «Wer Anglistik studiert und kein Latein beherrscht, schränkt seinen wissenschaftlichen Zugang zum Fach auf das 19. bis 21. Jahrhundert ein.»

Wer Latein lerne, so Richter, erwerbe nicht nur Sprachkompetenz, sondern darüber hinaus auch ein bildungsbürgerliches Wissensrepertoir. Auch wenn Latein heute als «sperrige Tradition» gelte, könne die Sprache doch das vernetzte Denken fördern. Wer sich mit Latein befasse, setze sich mit einer fremdartigen Kultur und Denkweise auseinander.

Lateinkenntnisse sollten allerdings nicht für alle Philologie-Studierenden zwingend sein, so Richter. Eine Bachelorstudentin, die ihre Schlussarbeit über postkoloniale Romane schreiben und nach dem Studium in einem Reisebüro arbeiten wolle, könne dies auch ohne Latein erreichen.

«Statt den Erwerb von Lateinkenntnissen verpflichtend zu machen, sollten die Universitäten darüber nachdenken, wie sie den Studierenden Latein und das Wissen über die Antike anderweitig schmackhaft machen können.»

«Latein trägt dazu bei, dass junge Menschen zu kulturell erwachseneren Persönlichkeiten werden», argumentierte Philologe Christoph Riedweg.

Die Welt erschliessen

«Latein trägt dazu bei, dass junge Menschen zu kulturell erwachseneren Persönlichkeiten werden», argumentierte Christoph Riedweg, Professor für Klassische Philologie an der UZH. Latein – sofern gut unterrichtet – trage dazu bei, den Menschen als kulturell verfasstes Wesen zu verstehen.

Das Erlernen der Sprache bringe einen breiten Wissenszuwachs mit sich – von der Mythologie bis zur politischen Philosophie. Und mit Blick auf Begriffe wie Kapitol, Senat, Gladiatoren oder Dur und Moll: Latein leiste einen wesentlichen Beitrag zur «Welterschliessung». Eine solche breite Bildungsleistung könne aber kaum in einem Latein-Schnellkurs an den Universitäten geleistet werden. Die Diskussion müsse deshalb auch den Stellenwert des Lateins an den Gymnasien einbeziehen.

Keine Frage des Wettbewerbs

Dass die einzelnen Fächer an den Universitäten über ein jeweiliges Latein-Obligatorium entscheiden sollen, für diese Lösung plädierte auch Antonio Loprieno, Professor für Ägyptologie und Präsident der Rektorenkonferenz CRUS.

Es bestünden keine Richtlinien zum Latein-Obligatorium auf der Ebene der Universitäten. Entsprechend drehe sich die Diskussion auch nicht um die Befürchtung, wegen eines Latein-Obligatoriums Studierende an andere Universitäten zu verlieren: «Der Wettbewerb zwischen den Universitäten hat zwar zugenommen, ist aber bei dieser Frage nicht entscheidend.» Eher werde die Chancengleichheit im Sinne eines möglichst offenen Zugangs zum Studium als Argument vorgebracht.

Kulturelle Diversität erhalten

Auch das Publikum im Saal beteiligte sich an der engagiert, phasenweise sogar emotional geführten Debatte. Einige Stimmen verliehen der Sorge um das humanistische Bildungsverständnis Ausdruck: Der lebendige Bezug zur europäischen Vergangenheit könne verloren gehen, wenn immer weniger Menschen Latein lernten. Eine Sekundarlehrerein plädierte dafür, sich nicht nur auf Übersetzungen zu verlassen, sondern den Zugang zu den Quellen zu sichern. «Auch wenn es eine Minderheit ist, wir brauchen Menschen mit Lateinkenntnissen – im Sinne der kulturellen Diversität».

Dass zumindest den interessierten Studierenden keine Steine in den Weg gelegt werden, forderte ein Hochschuldozent im Publikum: Es sei es absurd, wenn es bisweilen an den Universitäten nicht möglich sei, sich Latein als Wahlfach mit ECTS-Punkten anrechnen zu lassen.

Seitens der Schweizerischen Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) stellte Organisator Beat Immenhauser zusammenfassend fest, dass es an den Schweizer Universitäten an allgemein verbindlichen Vorstellungen mangelt: Welche Kompetenzen sollen mit dem Lateinunterricht zu welchem Zweck vermittelt werden. Die Fachgesellschaften der SAGW seien nun aufgerufen, diese Fragen zu erörtern und entsprechende Empfehlungen zu formulieren.