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Gymnasium und Universität

«Die Allgemeinbildung nicht gefährden»

Hat die Schweiz zu viele oder zu wenige Maturanden? Und reicht deren Niveau für ein Universitätsstudium aus? Franz Eberle, Professor für Gymnasialpädagogik, vertritt zu diesen umstrittenen Fragen fundierte Ansichten. Zusammen mit Fachkolleginnen aus Deutschland und Österreich hat er an der UZH ein internationales Symposium zu bildungspolitischen Fragen rund um den Übertritt vom Gymnasium zur Universität organisiert. 
David Werner

Matura als Türöffner zum Studium: Abschlussklasse an der Kantonsschule Stadelhofen Zürich.

Herr Eberle, welche Idee steht hinter dem bildungswissenschaftlichen Symposium, das morgen beginnt?

Franz Eberle: Die Idee ist, aktuelle schulische Entwicklungen rund um Matura und Abitur aus Sicht von Pädagogik, Empirischer Bildungsforschung und Wirtschaft aus internationaler Perspektive kritisch zu beleuchten.

Die Tagung, die Sie zusammen mit Fachkolleginnen aus Kassel und Wien organisieren, ist bereits die dritte in Folge. Welches waren die Erfahrungen der beiden vorangegangenen Symposien?

Franz Eberle: Die Rückmeldungen der Teilnehmenden waren ausnahmslos gut. Sie haben gezeigt, dass sie durch das Aufsetzen einer internationalen Brille den nationalen Blick auf das Gymnasium weiten konnten. Inzwischen liegen auch die beiden Tagungsbände vor.

Sind die Problemstellungen in Deutschland und Österreich mit jenen der Schweiz vergleichbar?

Franz Eberle: Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In allen drei Ländern ist die Frage der Auswirkungen der Bologna-Reform auf das Gymnasium ein Thema, ebenso die Verkürzung der Dauer des Gymnasiums und die Einführung von Bildungsstandards. Es gibt aber auch Unterschiede: Die meisten deutschen Bundesländer und bald wohl auch Österreich führen ein Zentralabitur durch. Zudem gibt es in Österreich neben der Allgemeinbildenden höheren Schule auch die Berufsbildende Schule. Sie führt nach fünf statt bereits nach vier Jahren zur Matura, ist aber auch ein Eintrittsticket für die Universität.

Ist überzeugt, dass die Schweiz so viele Maturanden braucht, wie sie jetzt hat: Franz Eberle, Professor für Gymnasialpädagogik und Direktor Lehrerinnen- und Lehrerbildung Maturitätsschulen an der UZH.

Welches sind Ihrer Auffassung nach die Kernaufgaben des Gymnasiums?

Franz Eberle: In der Schweiz ganz klar: Hinführen zur Studierfähigkeit, und zwar zur allgemeinen Studierfähigkeit, sowie zu einer vertieften Gesellschaftsreife. Mit allgemeiner Studierfähigkeit meine ich: die Maturanden sollen von ihren Grundkompetenzen her in der Lage sein, prinzipiell alle universitären Fächer zu studieren. Vertiefte Gesellschaftsreife heisst: Maturanden sollen nicht nur in der Lage sein, ihre staatsbürgerlichen Aufgaben und Rechte wahrzunehmen, sondern auch auf die Lösung weitergehender, anspruchsvoller Aufgaben in der Gesellschaft vorbereitet werden.

Ist allgemeine Studierfähigkeit und vertiefte Gesellschaftsreife auch an deutschen und österreichischen Gymnasien eine Kernaufgabe?

Franz Eberle: Letzteres wird sicher als zentrale Aufgabe gesehen. Allgemeine Studierfähigkeit ebenfalls, allerdings mit Abstrichen. In Deutschland und in Österreich ist die Abitur- bzw. Maturaquote generell höher als in der Schweiz. Dafür ist aber der Anteil der Abiturienten beziehungsweise Maturanden, die nach dem Gymnasium direkt in die Berufswelt gehen, in den anderen beiden deutschsprachigen Ländern grösser als hier. Im Verhältnis treten weniger Gymnasiastinnen und Gymnasiasten direkt an Universitäten über als in der Schweiz. Die Universitäten bzw. die einzelnen Fachrichtungen kontrollieren über Numerus clausus und Zugangsprüfungen ein Stück weit, wen sie zulassen und wen nicht.

In der Schweiz gibt es die generelle Zutrittsberechtigung von Maturanden zu jeglichen Studienrichtungen, von der Medizin einmal abgesehen.

Franz Eberle: Diese generelle Zutrittsberechtigung ist international einzigartig.

Halten Sie es für richtig, dass die Matura das Eintrittsbillet für die Universität ist?

Franz Eberle: Unbedingt.

Warum?

Franz Eberle: Aus drei Gründen. Erstens: Solange die Matura einen generellen prüfungsfreien Zutritt zum Universitätsstudium gewährleistet, besteht für die Gymnasien ein Anreiz, einen möglichst breiten Fächerkanon anzubieten. Zweitens stärkt es den Stellenwert und das Selbstbewusstsein des Gymnasiums, die Qualifikationshoheit innezuhaben. Und drittens können sich auf diese Weise die Maturandinnen und Maturanden darauf verlassen, dass ein Maturitätszeugnis einen hohen Wert hat und diesen auch behalten wird.

Hochschulen klagen bisweilen über das unzureichende Niveau der Studienanfänger. Wie berechtigt ist diese Klage?

Franz Eberle: Sie ist nur teilweise berechtigt. Grundsätzlich ist die allgemeine Studierfähigkeit bei den Studienanfängern vorhanden, das hat die 2008 publizierte und von mir geleitete Studie EVAMAR-II gezeigt. Die allgemeine Studierfähigkeit ist allerdings nicht bei allen Schweizer Maturanden lückenlos. Problematisch sind dabei Lücken in den basalen fachlichen Studierkompetenzen, namentlich in Mathematik, Erstsprache und Englisch, aber auch in den überfachlichen kognitiven und nicht kognitiven Studierkompetenzen.

Ist die Studierfähigkeit der Maturanden also doch nicht gewährleistet?

Franz Eberle: Die Lücken sind ja nur bei einem kleinen Teil von Maturandinnen und Maturanden vorhanden. Man könnte sie durch kleine Korrekturen in der gymnasialen Bildung vermeiden. Diese Korrekturen würden die jetzige Ausgestaltung des Gymnasiums und das Übertrittssystem nicht in Frage stellen.

Welcher Art sind diese Korrekturen?

Franz Eberle: Für das Bestehen der Matur müsste der Nachweis bestimmter grundlegender mathematischer und erstsprachlicher Kenntnisse, die in vielen Studienfächern vorausgesetzt werden, eingefordert werden. Für die Mathematik und die Erstsprache sind wir an meinem Lehrstuhl im Auftrag der EDK gerade daran, diese Bereiche zu identifizieren.

Man dürfte dann in diesen Fächern keine ungenügende Note mehr haben, um die Matur zu bestehen?

Franz Eberle: Soweit würde ich keinesfalls gehen. Wenn eine genügende Note in Mathematik die Bedingung für das Bestehen der Matur wäre, hätten beispielsweise im Jahre 2007 25 Prozent weniger junge Leute die Matura bestanden.

Der neue Schweizer «Bildungsminister» Johann Schneider-Ammann sagte in der NZZ am Sonntag im letzten Herbst, er hätte lieber etwas weniger, dafür bessere Maturanden.

Franz Eberle: Ich bin überzeugt, dass die Schweiz angesichts des Mangels an qualifizierten Akademikerinnen und Akademikern in einzelnen Bereichen so viele Maturanden braucht, wie sie jetzt hat, nicht weniger.

Würde das Niveau der Maturanden durchschnittlich besser, wenn am Gymnasium strikter selektioniert würde?

Franz Eberle: Wahrscheinlich schon. Das wäre aber der falsche Weg. Die Sicherung genügenden Wissens und Könnens im Bereich der basalen fachlichen Studierkompetenzen, wie ich ihn eben skizziert habe, ist hier der bessere Weg, um ärgerliche Defizite zu vermeiden. Das funktioniert auch ohne Senkung der Maturaquote.

Was halten Sie von der Idee stärker spezialisierter Gymnasien, die nicht mehr eine allgemeine, sondern eine fachspezifische Studierfähigkeit zum Ziel hätten?

Franz Eberle: Nicht viel, weil damit die breite Allgemeinbildung gefährdet wäre. Das Ziel der vertieften Gesellschaftsreife wäre so weniger gut zu erreichen. Es reicht, wenn die Fachspezialisierung an der Universität erfolgt.

Wie wäre es, den Kanon der Maturfächer einzuengen, um so sicherzustellen, dass solide Grundkompetenzen in den Hauptfächern erworben werden?

Franz Eberle: Damit wäre die allgemeine Studierfähigkeit nicht mehr gewährleistet. Allgemeine Studierfähigkeit bedeutet, potenziell viele verschiedene Fächer studieren zu können. Deshalb muss am Gymnasium Wissen und Können in vielen Fächern erworben werden.

Die Schweiz ist gegenwärtig in grossem Massstab auf den «Import» von hochqualifizierten Akademikerinnen und Akademikern angewiesen. Der Historiker Philipp Sarasin, der am Symposium ebenfalls einen Vortrag halten wird, fordert eine Erhöhung der Maturanden-Quote, um dieses Ungleichgewicht zu beheben.

Franz Eberle: Dieser Forderung schliesse ich mich nicht an. Ich glaube nicht, dass mehr Maturanden zu mehr hochqualifizierten Akademikern in jenen Bereichen führen, wo der Bedarf besteht: Beim Medizinstudium zum Beispiel erhalten nur ein Drittel der Anwärterinnen und Anwärter ihre Studienplätze. Die beschränkte Zahl der Studienplätze ist hier keine Frage der Maturanden-Quote. Durch eine Erhöhung der Maturaquote würden wohl auch nicht mehr anspruchsvolle Studien im Bereich der «Mangelfächer», namentlich der MINT-Fächer aufgenommen. Es braucht andere Anreize, um das Studieninteresse in diesen Fächern zu wecken. Das funktioniert nicht über eine pauschale Quotensteuerung.

Ihrer Meinung nach sollte man also die Maturanden-Quote in der Schweiz so belassen, wie sie ist?

Franz Eberle: Im Grossen und Ganzen ja. Zählt man zur gymnasialen Matur, die rund zwanzig Prozent eines Jahrgangs ablegen, die Berufsmatur hinzu, kommt man auf eine Maturanden-Quote von 33 Prozent. Das ist im internationalen Vergleich gar nicht so wenig.

Ein Problem sehe ich hingegen in den Unterschieden zwischen den Kantonen: In Genf erhielten im Jahre 2011 28,6 Prozent der Gleichaltrigen ein gymnasiales Maturitätszeugnis, in Glarus nur 11,8 Prozent. Dieselben Leistungen werden in Glarus nachweislich schlechter bewertet als in Genf. Das ist ungerecht. Hier muss man einen Ausgleich schaffen. Eine Lösung sehe ich momentan noch nicht. Fest steht nur, dass sich eine Annäherung nur über eine leichte Anhebung der gesamtschweizerischen Matura-Quote wird erreichen lassen.

Nicht alle Maturandinnen und Maturanden streben ein Universitätsstudium an. Sollten Gymnasien sich vermehrt auch an jenen Schülern ausrichten, die zum Beispiel eine Fachhochschule besuchen wollen?

Franz Eberle: Nein. Gymnasien sollen auf ein Universitätsstudium und auf das Studium an einer Pädagogischen Hochschule vorbereiten. Zur Vorbereitung auf Fachhochschulen ist die Berufsmatur vorgesehen, allenfalls auch auf eine «höhere Berufslehre». Natürlich muss die Durchlässigkeit gewährleistet werden, damit junge Erwachsene frühere Bildungsentscheidungen noch korrigieren können. Grundsätzlich sollte man die Profile der beiden Bildungswege aber nicht aufweichen.