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Politikwissenschaft

Chinas zwiespältiger Umgang mit Protest

Seit Anfang der 1990er Jahre finden in China immer häufiger Bürgerproteste statt. Welche Entwicklungen dahinter stehen und welche Auswirkungen die urbane Mobilisierung hat, wird diese Woche an einer Tagung an der Universität Zürich diskutiert. Organisiert wird die Veranstaltung von Politikwissenschaftlern aus Zürich und China. UZH News hat bei UZH-Professor Daniel Kübler nachgefragt.
Adrian Ritter
Eine Chinesin wehrt sich gegen die Enteignung ihres Hauses: Bürgerproteste nehmen seit den 1990er Jahren zu.

UZH News: Sie stellen eine Zunahme politischer Proteste in China fest. Wie sehen diese aus?

Daniel Kübler: Im Internet gibt es immer mehr kritische Blogs. Die Zentralregierung kontrolliert und filtert das Internet allerdings sehr stark. Es ist ein technologischer Wettlauf zwischen Zensur und Zensur-Umgehung. An der Tagung und in unserer Forschung betrachten wir vor allem eine andere Form von politischer Mobilisierung: die zunehmenden lokalen Proteste von Bürgerinnen und Bürgern in Chinas Städten.

Wie lassen sich diese erklären?

Daniel Kübler: Als in den 1980er Jahren die Wirtschaftsreformen begannen, ging damit auch eine Dezentralisierung einher. Die lokalen Behörden erhielten mehr Autonomie – etwa um neue Wirtschaftsmodelle auszuprobieren. Denken Sie an die Grossstädte an der chinesischen Küste, die in Sonderwirtschaftszonen lokal gute Bedingungen für ausländische Investoren schaffen konnten.

Weil die Behörden mehr Kompetenzen erhielten, wurden sie aber auch öfter das Ziel von Protesten. Plötzlich war die Distanz kleiner zwischen denjenigen, die entscheiden und denjenigen, die von diesen Entscheidungen betroffen sind. Das fördert die Mobilisierung. Man erwartet mehr Wirkung als von einem Protest, der sich an die ferne Parteizentrale in Peking richtet.

Wer sind die Protestierenden?

Daniel Kübler: Es gibt unterschiedliche Gruppen. Uns interessieren vor allem zwei: Erstens die neue urbane Mittelschicht, die seit dem Beginn der Wirtschaftsreformen in den 1980er Jahren entstanden ist – etwa eine wachsende Zahl privater Wohnungs- und Hausbesitzer. Zweitens bildete sich im Zuge der Reformen die Gruppe der Wanderarbeiter, die sich jetzt für ihre sozialen Rechte einsetzen. Beide Gruppen sind vor allem in Grossstädten zu finden, weshalb auch die Protestaktionen vor allem im urbanen Raum stattfinden.

Inwiefern sind die chinesischen Protestaktionen mit denjenigen im arabischen Raum zu vergleichen?

Daniel Kübler: Die Proteste in China sind nicht als demokratische Revolution zu verstehen. Anders als etwa in Tunesien oder Ägypten boomt die Wirtschaft in China und die Proteste sind somit auch keine <Hungerrevolten> wie bisweilen im arabischen Raum. Grundsätzlich sitzt die Zentralregierung sehr fest im Sattel – das Regime hat erstaunlich hohe Zustimmungsraten.

Es geht bei den Protesten vor allem um lokale Missstände. Die Bevölkerung wehrt sich vermehrt gegen Umweltverschmutzung, schlechte Arbeitsbedingungen, korrupte Behörden oder etwa gegen den Abriss alter Quartiere.

«Die Proteste in China sind nicht als demokratische Revolution zu verstehen»: Daniel Kübler, Professor für Politikwissenschaft an der UZH.

Inwiefern duldet die chinesische Regierung solche lokalen Proteste?

Daniel Kübler: Die Behörden haben einen zwiespältigen Umgang damit. Die Kommunistische Partei weiss, dass sie mit ihrem politischen Monopolanspruch ein Legitimationsproblem hat. Wenn die Menschen also Missstände feststellen und sich dagegen wehren, kann das gefährlich werden.

Der Zentralregierung ist deshalb daran gelegen, dass solche Missstände aufgedeckt und wenn möglich behoben werden. Sie versucht den Protest aber einzugrenzen, sodass er nicht das System in seinen Grundfesten erschüttert. Die Unzufriedenheit darf auf lokaler Ebene sichtbar werden, denn sie dient der Zentralregierung gleichzeitig auch dazu, die lokalen Behörden zu disziplinieren. Insofern ist solcher Protest sogar erwünscht und die Bürger werden ermutigt, Missstände etwa auf Internet-Plattformen der Behörden zu deponieren.

Könnten die lokal akzeptierten Proteste nicht dazu führen, dass die Bürgerinnen und Bürger auch auf nationaler Ebene mehr Mitsprache und Demokratie einfordern?

Daniel Kübler: Die zulässigen lokalen Proteste können tatsächlich Erwartungen wecken an einen neuen Umgang der Behörden mit den Bürgern. Es wird mich sehr interessieren, an der Tagung die Einschätzung meiner chinesischen Kollegen zu hören. Trägt die urbane Mobilisierung allgemein zu einer aktiveren Rolle der Bürger bei? Sind die Reaktionen der Behörden ein Anzeichen dafür, dass sie die Anliegen der Bürger tatsächlich ernster nehmen wollen? Oder ist alles nur Fassade?

An der Tagung werden chinesische Politologen ihre Erkenntnisse mit Kollegen aus Zürich und diversen anderen Ländern diskutieren. Dürfen chinesische Wissenschaftler sich frei äussern zum Thema Bürgerproteste?

Daniel Kübler: Als Wissenschaftler dürfen sie das durchaus – solange die Proteste also als empirische Fakten analysiert werden und in einem Forschungszusammenhang stehen. Problematisch würde es, wenn sich Wissenschaftler politisch engagieren.

Zu lokalen Protesten, wie wir sie an der Tagung diese Woche diskutieren, gibt es zahlreiche empirische Untersuchungen. Zudem gibt es in China Forschung zu Experimenten lokaler Demokratie, welche die Regierung initiiert hat – etwa indem die Kommunistische Partei bei Lokalwahlen mehrere Kandidaten aufstellt. Allerdings ist das Verhältnis der Zentralregierung auch zu solchen Experimenten ambivalent. Einige wurden kürzlich überraschend für beendet erklärt.

In Ihrer eigenen Forschung widmen Sie sich vor allem chinesischen Grossstädten. Worum geht es dabei?

Daniel Kübler: Ich untersuche in Zusammenarbeit mit der Chinese Academy of Social Sciences, warum immer mehr Städte in China zu «Megacities» werden und wie diese regiert werden können. Mich interessiert etwa, inwiefern verschiedene Staatsebenen – lokal, regional, national — in der politischen Steuerung der Grossstädte mitreden und inwiefern es dabei auch zu Konflikten kommt. China ist diesbezüglich besonders interessant, weil unter anderem Shanghai und Peking direkt von der Zentralregierung verwaltet werden.

Meine These, nicht nur auf China bezogen: Grossstädte und Agglomerationen werden je länger je entscheidender für die Entwicklung ganzer Länder. In China ist diese Aussage besonders interessant, weil es immer mehr solche Megacities gibt. Die Frage, welche Auswirkungen dies auf das Gefüge zwischen den verschiedenen politischen Ebenen hat und was es für die chinesische Zentralregierung bedeutet, ist Teil unserer Forschung.