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Umbruch in der arabischen Welt

«Auf die Revolution folgt der kulturelle Backlash»

Die arabischen Revolten haben Regimes hinweggefegt und Hoffnungen geweckt. Doch bis aus den betroffenen Staaten Demokratien werden, dauert es noch lange, sagt Politologin Elham Manea.
Interview: Thomas Gull und Roger Nickl

Glaubt nicht an den raschen Wandel: Elham Manea, Privatdozentin für Politikwissenschaft an der UZH.

Frau Manea, die Reformbewegungen in verschiedenen Ländern der islamischen Welt sind mit viel Euphorie gestartet. Jetzt hat man den Eindruck, dass vielerorts Ernüchterung eingekehrt ist. Ist der «arabische Frühling» vorüber?

Elham Manea: Ich mag die Bezeichnung «arabischer Frühling» überhaupt nicht, weil sie Erwartungen weckt, die nicht in so kurzer Zeit erfüllt werden können. Ich bevorzuge die Bezeichnung «arabische Revolten».

Das klingt gewalttätig.

Manea: Ausser in Tunesien und Ägypten haben diese Revolten zu bewaffneten Auseinandersetzungen geführt.

Was passt Ihnen am Begriff des «arabischen Frühlings» nicht?

Manea: Nach dem Frühling kommt der Sommer, dann der Herbst und jetzt sind wir im Winter angelangt. Ich bevorzuge eine Bezeichnung, die berücksichtigt, dass es sich um sehr schwierige Transformationsprozesse handelt, die sich von Land zu Land unterscheiden. Ausserdem wurde die Bezeichnung von einem syrischen Journalisten in die Welt gesetzt, der sich auf den Damaszener Frühling im Jahr 2000 bezog, eine Zeit intensiver politischer Debatten, die nach dem Tod von Hafez al-Assad einsetzte. Sie dauerte nur ein Jahr. Wenn man weiss, wie dieser Frühling von Damaskus geendet hat, findet man den Begriff eher unpassend.

Die «Revolten» in den arabischen Ländern sind, wie Sie sagen, sehr unterschiedlich verlaufen. Wenn Sie eine Rangliste machen müssten: Wo waren die Demokratiebewegungen am erfolgreichsten?

Manea: Ich mag keine Rankings. Wir sollten zuerst über den Kontext sprechen und Länder wie Ägypten und Tunesien von solchen wie Libyen, Syrien, Jemen und Bahrain unterscheiden. Die Ersteren sind alte Staaten mit relativ homogenen Gesellschaften und einer starken nationalen Identität, die Letzteren solche, die erst im 20. Jahrhundert entstanden sind und von den Kolonialmächten geformt wurden. In diesen Staaten gibt es nur ein schwach ausgeprägtes Nationalbewusstsein. Die Gesellschaften sind entlang ethnischer und konfessioneller Linien gespalten.

Sprechen wir über Ägypten: Wie schätzen Sie die Lage dort ein?

Manea: Ägypten ist ein schwieriger Fall. Es gibt mit Staatspräsident Mursi zwar einen neuen Präsidenten. Aber die Art und Weise, wie das Land regiert wird, hat sich nicht verändert. Es gibt die gleiche Gewalt wie unter Mubarak, dieselben Versuche, die Gesetze zu umgehen. Das alte System wurde nicht demontiert, und es gibt keine Versuche, Gerechtigkeit herzustellen und die Übergriffe aus der Zeit von Mubarak zu bestrafen. Das Einzige, was die neuen Machthaber tun, ist, die Korruption zu bekämpfen. Aber das taten neue Machthaber immer schon.

Grosse Teile des Staates scheinen in Ägypten noch gleich zu funktionieren und von den gleichen Leuten kontrolliert zu werden wie zur Zeit Mubaraks. Gibt es eine «Schattenregierung»?

Manea: Ja, wir nennen das den «deep state», was man vielleicht mit «Schattenstaat» übersetzen könnte. Das Problem ist, dass es keine Entwicklung gibt, die den Menschen erlauben würde, wieder Vertrauen in diese Institutionen zu fassen.

Es hat sich nichts geändert?

Manea: Doch, es hat sich etwas Entscheidendes verändert: Die Menschen haben aufgehört, Angst zu haben. Sie demonstrieren immer noch, jeden Tag. Sie äussern ihre Meinung und kritisieren den Präsidenten. Das war früher nicht so.

In Ägypten wurde die Oberfläche etwas aufgekratzt, es gab Wahlen. Doch die siegreichen Islamisten haben sich mit den bestehenden Machtstrukturen arrangiert. Gibt es eine Chance, dass Ägypten zu einer offenen Demokratie wird?

Manea: Das werden die Diskussionen auf dem Weg zu einer neuen Verfassung zeigen. Da findet jetzt die Auseinandersetzung statt. Mursi und seine Regierung spielen das gleiche Spiel, das Mubarak spielte: Sie versuchen die Gerichte zu beeinflussen. Wenn die Verfassung so durchkommt, wie sie jetzt im Entwurf besteht, stehen schwierige Zeiten bevor. Denn diese Version der Verfassung spaltet die Gesellschaft, indem sie islamistische Vorstellungen favorisiert.

Wie müsste die neue Verfassung denn aussehen?

Manea: Man muss zu einem Konsens kommen, der reflektiert, dass es religiöse Minderheiten gibt, dass den Frauen die gleichen Rechte zustehen wie den Männern und dass nicht alle Muslime einen islamistischen Staat wollen. Damit ein demokratisch verfasster Staat funktioniert, braucht es Einigkeit über einige Grundregeln. Das absolute Minimum ist die Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger. Es darf keine Hierarchie geben, die die sunnitischen Muslime bevorzugt behandelt.

Wie die Wahlen gezeigt haben, sind die liberalen Kräfte in der Minderheit. Sie sind auf das Entgegenkommen der Muslimbrüder angewiesen. Halten Sie das für realistisch?

Manea: Wenn die Muslimbrüder keine Konzessionen machen, werden sie die nächsten Wahlen verlieren. Der Rückhalt ist bereits in der Zeit von den Parlamentswahlen bis zur Wahl des Präsidenten deutlich geschrumpft. Ich befürchte jedoch, dass die Muslimbrüder bis zu den nächsten Wahlen versuchen werden, das System in Richtung einer Theokratie wie im Iran nach der Revolution zu verändern. Ich glaube allerdings nicht, dass dies gelingen wird.

«Die Frauen wurden wieder zurück an den Herd geschickt.» Elham Manea.

In Ihrer Forschung untersuchen Sie die Frauenrechte in der islamischen Welt. Welche Rolle spielten die Frauen im «arabischen Frühling»?

Manea: Sie haben eine wichtige Rolle gespielt. Der erste Protest vom 6. April 2008 in Ägypten ging von einer Facebook-Kampagne aus, die von einer Frau organisiert wurde. Frauen partizipierten in Ägypten an den Protesten, aber auch an der Mobilisierung der Demonstranten unter anderem in Online-Medien. Und sie dokumentierten die Geschehnisse. Das heisst, sie waren an allen Fronten mit von der Partie. Auch in Libyen und im Jemen waren sie treibende Kräfte, wenn auch nicht in dem Ausmass wie in Ägypten und Tunesien. In dem Augenblick, in dem die alten Regimes gestürzt wurden, zogen allerdings die alten Normen wieder ein. Die Frauen wurden quasi wieder zurück an den Herd geschickt. Es gibt leider einen kulturellen Backlash nach der Revolution. Die Frage ist jetzt, wie die Frauen reagieren werden. In Tunesien gingen sie bereits wieder auf die Strasse, um für die Gleichstellung von Mann und Frau in der Verfassung zu demonstrieren. Damit haben sie ein wichtiges und richtiges Zeichen gesetzt. Aber wenn Sie mich fragen, ob wir auch einen «arabischen Frühling» für die Frauen hatten, so würde ich mit einem klaren Nein antworten.

Ist das nicht eine Illusion vieler Reformbewegungen: Man demonstriert, stürzt das Regime und meint dann, die Welt sei jetzt eine andere?

Manea: Es ist eine Illusion. Deshalb spreche ich auch nicht vom «arabischen Frühling». Es geht um eine langsame Transformation, die viel Zeit in Anspruch nehmen wird.

Wie viel Zeit?

Manea: Hundert Jahre vielleicht.

So lange darf es nicht dauern.

Manea: (lacht)

Wir haben bis jetzt erst über die «alten» Staaten gesprochen, die Sie erwähnt haben, über die neuen noch nicht. Alle können wir hier nicht behandeln. In Syrien ist die Lage, wie wir wissen, katastrophal und erscheint ausweglos, im Jemen ist sie verworren. Doch in Libyen hat man den Eindruck, die Demokratisierung des Landes komme voran.

Manea: Wirklich?

Gemeinsam hat man sich von Gaddafi befreit. Es wurde demokratisch ein Parlament gewählt. Das Land verfügt über grosse Erdölressourcen. Das sind alles gute Voraussetzungen. Finden Sie nicht?

Manea: Ein Problem ist, dass die Milizen noch bewaffnet sind. Zudem ist der Staat sehr schwach. Und das Land ist sozial sehr heterogen. Es gibt verschiedene Regionen, die in Konkurrenz zueinander stehen. Und ich muss auch hier über Fragen der Gerechtigkeit sprechen: Die Verbrechen der Vergangenheit werden in Libyen nicht aufgearbeitet. Ohne Gerechtigkeit kann eine Gesellschaft aber nicht erfolgversprechend neu anfangen.

Gaddafi wurde exekutiert, ist das nicht auch eine Form von «Gerechtigkeit»?

Manea: Das war Mord. Er war das erste Anzeichen dafür, dass etwas schiefläuft. Denn wenn man wirklich Gerechtigkeit will, hätte man Gaddafi vor Gericht bringen müssen. In Libyen ist wie gesagt das Öl wichtig. Wichtig ist auch die internationale Unterstützung, weil niemand will, dass das Land auseinanderfällt. Aber nicht einmal die USA haben Kontrolle darüber, was im Land geschieht, wie der Fall des ermordeten US-Botschafters zeigt. Wenn das der Ausgangspunkt für einen neuen Staat sein soll, dann haben wir wirklich ein Problem. Deshalb glaube ich, dass die Situation in Libyen nicht so gut ist, wie sie erscheinen mag.

Haben Sie den Eindruck, dass sich die arabische Welt von Grund auf verändert – wird sie offener und demokratischer?

Manea: Vieles ist noch offen. Die Transformationen, die jetzt stattfinden, können in verschiedene Richtungen gehen. Sie können sehr chaotisch laufen und möglicherweise die Staaten wieder in ihren alten Zustand zurückversetzen. Es ist aber auch ganz offensichtlich, dass sich ein Wandel vollzogen hat. Man hat, wie gesagt, den Eindruck, dass die Menschen sich vor den Mächtigen nicht mehr so fürchten wie früher.

Weiterführende Informationen

Kontakt

Hinweis

Den Umwälzungen in der arabischen Welt widmet sich auch die in diesen Tagen erscheinende Publikation «Demokratisierung im arabischen Raum». Sie enthält die ergänzten Beiträge der 4. Aarauer Demokratietage, die diesem Thema gewidmet waren, u.a. von Elham Manea.