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Sozialpädagogik

«Die Autonomie des Einzelnen muss gewahrt bleiben»

Catrin Heite ist die Nachfolgerin von Reinhard Fatke auf dem Lehrstuhl für Sozialpädagogik. Im Interview mit UZH News erklärt sie, was Sozialpädagogik als Wissenschaft und Profession ausmacht.
Marita Fuchs
Am Rande der Gesellschaft: Wie kann Personen in prekären Lebenslagengeholfen werden, ohne ihre Autonomie zu beeinträchtigen?

Frau Heite, wie sind Sie zur Sozialpädagogik gekommen?

Catrin Heite: Ich habe in Bielefeld Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialpädagogik studiert und bekam von Professor Hans Uwe Otto das Angebot, zu promovieren. Doch ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits eine Stelle in der sozialpädagogischen Praxis und habe zunächst das Angebot, eine Doktorarbeit zu schreiben, ausgeschlagen. Ich konnte dann in der stationären Jugendhilfe unter anderem eine Jugendliche betreuen, die suizidgefährdet war und selbstverletztes Verhalten gezeigt hat.

Damals habe ich mich damit auseinandergesetzt, was eigentlich professionelles Handeln in der Sozialpädagogik bedeutet. In der Praxis war ich täglich mit der Frage konfrontiert, wie das sozialpädagogische Verhältnis auszugestalten ist. Zum Beispiel hinsichtlich der Balance zwischen Nähe und Distanz. Professionalität in der Sozialpädagogik war dann auch Thema meiner Doktorarbeit, in der ich vor allem anerkennungs- und geschlechtertheoretisch gearbeitet habe.

In Ihrer Habilitation haben Sie das Thema Professionalität aufgegriffen.

Ich habe mich dafür interessiert, wie sich sozialstaatliche Transformationsprozesse auf die Sozialpädagogik auswirken und was Praktiker und Praktikerinnen unter Professionalität verstehen. Dafür habe ich Interviews mit Sozialpädagogen und Sozialpädagoginnen geführt und mit ihnen über ihren Berufsalltag, ihre Handlungsprinzipien und Adressatinnen gesprochen.

Gibt es Kriterien für professionelles Handeln?

Ja, zum Beispiel die Ergebnisoffenheit des Hilfeprozesses. Theoretisch gilt es als professioneller Standard, dass es der Adressatin bzw. dem Adressaten überlassen bleibt, was er oder sie aus dem sozialpädagogischen Unterstützungsangebot macht. Die Autonomie des Einzelnen muss gewahrt bleiben.

Wie erreicht man das?

Die Sozialpädagogik sagt nicht: «Wir machen jetzt das und das», sondern: fragt: «Welchen Zustand haben wir jetzt – und möchten Sie ihren Zustand überhaupt verändern?» Falls ja, sollten die Möglichkeiten offen besprochen werden. Damit geht es theoretisch und praktisch um das Angebot neuer und anderer Deutungs- und Handlungsweisen, wobei es das Recht der Adressaten bleibt, diese Angebote abzulehnen oder anzunehmen.

In der Theorieentwicklung betonen wir in diesem Zusammenhang die Anerkennung von Formen der Lebensgestaltung, die aktuellen gesellschaftlichen Normen nicht entsprechenden und deswegen Missachtung und Diskriminierung erfahren.

Gibt es auch Richtlinien? Der agierende Sozialarbeiter muss sich doch an Direktiven halten.

Das stimmt. Hierfür bedarf es eines umfangreichen Bildungsprozesses, in dem man sich mit grundlegenden Normen und den Handlungsmöglichkeiten auseinandersetzt. Es gibt aber immer einen professionellen Ermessensspielraum.

Wie gross ist der Ermessensspielraum im Umgang mit Drogenabhängigen?

Beim Umgang mit Menschen, die Drogen konsumieren, ist es je nach Fall unangemessen, wenn als sozialpädagogisches Ziel ein drogenfreies Leben formuliert wird. In solchen Fällen muss man abwägen und die möglichen Hilfestellungen und Ziele mit der Adressatin diskutieren. Doch gibt es auch hier kritische Momente, in dem professionelles Eingreifen im Sinne einer advokatorischen Ethik angesagt ist. Auch hier aber gilt es, Personen in prekären Lebenslagen Optionen anzubieten.

Als Forscherin untersuchen Sie also das Zusammenspiel von Sozialarbeiter und Adressat?

Ja, wir untersuchen in theoretischer, empirischer und historischer Perspektive öffentlich organisierte Prozesse der Unterstützung. Dabei ist besonders die Disziplinierung und Kontrolle von Personen in prekären Lebenslagen Gegenstand der kritischen Betrachtung.

Und das machen wir hier in Zürich in einer anerkennungs- und gerechtigkeitstheoretischen Perspektive. Es geht um die Analyse von Benachteiligung, Diskriminierung und eingeschränkter Teilhabe- und Teilnahmemöglichkeiten an Gesellschaft, um die Autonomie der Lebenspraxis sowie die Eröffnung von Handlungsräumen und Veränderungsmöglichkeiten.

Wann hat sich die Sozialpädagogik eigentlich als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft etabliert?

Die einzelnen Bereiche der Disziplin Erziehungswissenschaft haben unterschiedliche Schwerpunkte, aber auch Überschneidungen. Der Begriff des «Sozialen» in der Pädagogik verweist sowohl auf historisch spezifische Problematisierungen als auch auf die Vorstellung eines gerechten Ausgleichs und des guten Lebens. Dieser Zusammenhang hat seine historischen Wurzeln in der sozialreformerischen Bewegung Ende des 19. Jahrhunderts. Damals zeigte sich die Brüchigkeit der bürgerlichen Gesellschaft durch Armut und Arbeitslosigkeit. Die «soziale Frage» rief die so genannte «Fürsorge» auf den Plan.

Sie beschäftigen sich an ihrem Lehrstuhl auch für die historische Dimension der Soziapädagogik. Was interessiert sie daran?

Die historischen Themen ähneln den heutigen sehr – und auch die Bearbeitungsweisen sind ähnlich.

Können Sie dazu ein Beispiel nennen?

Ja, einen Fall von Kindeswohlgefährdung in Zürich Anfang des 20. Jahrhunderts. Der Schweizer Erziehungswissenschaftler Urs Hardegger hat kürzlich im Rahmen unseres Promotionskolloquiums einen Vortrag dazu gehalten. Detailliert und chronologisch arbeitete er das Verhältnis der Fürsorgeempfängerin Luisa Agostini – damals ein Kind von 9 Jahren – und der bürgerlichen Fürsorgerin Frau Vögeli auf. Dabei zeigt sich ein typisches Dilemma der Sozialpädagogik: Frau Vögeli will helfen, doch gleichzeitig kontrolliert und diszipliniert sie Louisa. Sowohl Kindeswohlgefährdung als auch die Gleichzeitigkeit von Hilfe und Kontrolle sind noch heute ein zentrales Problem der Sozialpädagogik.

Wie äussert sich dieses Problem?

Die Autonomie und die Selbstbestimmungsrechte der Betroffenen können durch den Druck der Sozialarbeiterin, die meist auch Vertreterin des Staates ist, empfindlich in Gefahr geraten.

Mit diesem Thema befasst sich ganz konkret auch ein Projekt der Sozialpädagogin Marion Pomey, die an unserem Lehrstuhl tätig ist. In ihrer Forschung untersucht sie, wie die heutigen sozialpädagogischen Institutionen in Fällen möglicher Kindeswohlgefährdung entscheiden und welche Massnahmen ergriffen werden.

Worin liegt der Unterschied im Umgang mit der Kindeswohlgefährdung zu früher?

Heute möchte man den Betroffenen auf Augenhöhe begegnen und sie mit in die Entscheidungen einbeziehen. Man hat den Anspruch, diskursiver und auch demokratischer zu handeln und genau diesen Anspruch untersucht die Forschung.

Wie zeitgebunden ist die jeweilige Auffassung von guter sozialpädagogische Praxis?

Sie stehen immer im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Verhältnissen und Diskursen.

Gibt es Ihrer Ansicht nach auch Richtlinien, die absolut gültig sind?

Die Frage nach dem normativen Grundgehalt der Profession wird unterschiedlich beantwortet. Sozialpädagogik richtet ihre Handlungsmaxime unter anderem an universellen Menschenrechten aus. Aber sie geht auch darüber hinaus, indem sie ihre Aufmerksamkeit in Theorie und Forschung auf Gerechtigkeit, Anerkennung und personale Autonomie richtet.

Hier leistet Sozialpädagogik Beiträge zu der Frage, wie Gesellschaft gestaltet werden könnte. Dabei steht heute im Zentrum der Profession, die Ambivalenzen der Hilfeleistung und der Begrenzung des Handelns in gesellschaftlichen Verhältnissen zu reflektieren. Wichtig ist es, den Prozess der Problematisierung anzuschauen und die dahinter liegenden sozialen Normen zu hinterfragen.

Zum Beispiel?

Migration zum Beispiel wird häufig als Problem gesehen. Aber ist Migration wirklich das Problem? Ist nicht eher Rassismus das Problem? Mit einer solchen hinterfragenden Perspektive bietet die Sozialpädagogik Reflexionswissen für gesellschaftliche und professionelle Fragestellungen an.