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Kleist-Jahr 2011

Wer ihn liest, wird wachgerüttelt

Am 21. November jährt sich der Todestag Heinrich von Kleists zum 200. Mal. Christoph Steier vom Deutschen Seminar der Universität Zürich und Roland Koberg, Dramaturg am Schauspielhaus Zürich, erzählen, was sie persönlich am grossen Aussenseiter der deutschen Literatur fasziniert. Für das «Käthchen von Heilbronn» im Schauspielhaus Zürich verlost UZH News 3x2 Theaterkarten.
Alice Werner

Herr Koberg, im Alter von 34 Jahren hat Heinrich von Kleist (1777–1811) sich und seine Selbstmordgefährtin Henriette Vogel am Berliner Wannsee erschossen. Zeit seines Lebens fühlte er sich als Autor verkannt. Heute zählt sein Oeuvre zu einem der gewaltigsten der deutschen Sprache. Was fasziniert Sie persönlich an ihm?

Kleist war ein brillanter Figurenentwickler. Er hat es wie kein anderer Dichter seiner Zeit verstanden, sich in jeden einzelnen seiner Charakteren hineinzuschreiben. Selbst Nebenrollen sind bis ins Detail ausgearbeitet: Die kuriosesten Randfiguren haben noch Grösse und Tiefe, tragen eine existentielle Verzweiflung in sich. Diese Fallhöhe und Grenzenlosigkeit zieht sich durch Kleists gesamtes Werk und ist natürlich auch seinem von Ambivalenz, Fantastik und Scheitern geprägten Leben als Dichter geschuldet.

Als Mensch war er jemand, der sich nie mit dem Erreichten in der Kunst zufrieden gab, sondern alles hinterfragte und weitertrieb bis an die Grenzen von Verstand und Sprache. Wer Kleist liest, wird regelrecht wachgerüttelt.

Aufwühlendes Seelendrama: «Das Käthchen von Heilbronn» in der Inszenierung des Schauspielhauses Zürich.

«Das Käthchen von Heilbronn» ist ein Märchen für Erwachsene und gemäss Kleist ein «historisches Ritterschauspiel». Warum sollte uns das Stück heutzutage noch interessieren?

Kleist selbst sagte im Nachhinein, er hätte, um das Drama dem Geschmack der Leute anzudienen, sich zu «Missgriffen» verleiten lassen. Das Genre des Ritterschauspiels diente ihm also nur als Folie, als populärer Hintergrund für sein eigentliches Anliegen: Die «conditio humana» aus seiner Welt heraus zu beleuchten. Dementsprechend nachlässig, ja schlampig ist er etwa mit historischen Ereignissen umgegangen.

Historiker würden das Käthchen als einen «wilden Mix durch die Jahrhunderte» bezeichnen. Aber hinter dem märchenhaften Mummenschanz, der im Stück aufgeboten wird, blitzt eine Weisheit und Weltsicht hervor, die zeitlos ist. Was Kleist über den Menschen zu sagen hatte, ist aus sich heraus spannend und braucht das Attribut «aktuell» nicht.

Im Zentrum des Dramas stehen das 15-jährige Käthchen und der ritterliche Graf Friedrich Wetter vom Strahl. Was macht ihre Liebesgeschichte so heillos kompliziert?

Käthchen ist ein junges Mädchen, unwissend und opferbereit bis zur Torheit. Aber aus dieser fast masochistischen Anlage heraus entwickelt sie eine ungeheure Radikalität, die sie unverwundbar erscheinen lässt. Mächtig durch Hingabe, wie Kleist einst schrieb. Eine solche Frau kann alles in Frage stellen. Ihr gegenüber steht Graf Friedrich Wetter vom Strahl, ein starker Mann und komplizierter Charakter. Zuweilen jedoch bricht der Panzer auf, der seinen Körper schützt und seine Seele umhüllt: Dann benimmt er sich kindisch, ist launisch, liebeskrank, lebensmüde. Er liebt Käthchen, tut aber alles, um ihr aus dem Weg zu gehen. Würde sie ihn küssen oder beissen, wenn er sich ihr näherte? Die Ambivalenz von Stärke und Schwäche, von Herrschaft und Ausgeliefertsein, kettet die beiden so unbedingt aneinander.

«Das Käthchen von Heilbronn» läuft zurzeit im Schauspielhaus Zürich. Sie haben die Proben dramaturgisch begleitet. Was erwartet das Publikum?

Ein spannendes Seelendrama unter Grenzgängern. Die Aufführung versammelt grandiose Schauspieler, die uns nie darüber nachdenken lassen, dass dieses Stück ein so genannter Klassiker ist – obwohl er in Zürich kurioserweise seit 1953 nicht mehr gespielt wurde. Damals mit Lieselotte Pulver in der Titelrolle, heute mit Lilith Stangenberg.