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Evolutionsbiologie

Vom Mehrzeller zum Einzeller und wieder zurück

Cyanobakterien haben eine wesentlich dynamischere Entwicklungsgeschichte erlebt, als man bisher dachte. Die vielfältigen Organismen, welche zu den ältesten der Erde gehören, haben den Schritt vom simplen Einzeller zum komplexen Vielzeller mehrmals gemacht. Damit widerlegen sie ein altes Gesetz der Evolutionsbiologie.
Felix Würsten

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Cyanobakterien – auch Blaualgen genannt – gehören zu den ältesten und wichtigsten Lebewesen der Erde. Bereits vor 2,4 Milliarden Jahren haben sie mittels Photosynthese Sauerstoff produziert und damit wesentlich dazu beigetragen, dass die Erde eine sauerstoffreiche Atmosphäre bekam.

Bemerkenswert sind Cyanobakterien aber noch aus einem anderen Grund: Sie zeigen, dass Lebewesen Fähigkeiten, die in früheren Generationen verloren gingen, wieder zurückgewinnen können – und widerlegen damit eine gängige These der Evolutionsbiologie, wie Bettina Schirrmeister, Doktorandin am Institut für Evolutionsbiologie und Umweltwissenschaften der Universität Zürich, in einem Aufsatz in der Zeitschrift BMC Evolutionary Biology zeigen konnte.

Mikroskopische Aufnahme des Cyanobakteriums Anabaena sp. Diese Form verfügt über differenzierte Zellen, die sich auf bestimmte Aufgaben spezialisiert haben.

Frühe Differenzierung

Cyanobakterien sind für Evolutionsbiologen nicht nur wegen ihrer langen Geschichte spannende Forschungsobjekte, sondern auch wegen ihrer enormen Vielfalt. Vom simplen Einzeller bis hin zu fadenförmigen, teilweise sogar verästelten Mehrzellern findet man diese Bakterien in allen Regionen der Erde. Insgesamt sind inzwischen über 2000 verschiedene «Arten» bekannt. Einige von ihnen sind derart weit fortgeschritten, dass man bei ihnen bereits eine Arbeitsteilung zwischen unterschiedlich differenzierten Zellen findet.

Bettina Schirrmeister hat nun mit Hilfe phylogenetischer Analysen die Verwandtschaftsverhältnisse dieser Cyanobakterien genauer untersucht. Dazu hat sie Gensequenzen von knapp 1300 Formen aus Datenbanken abgerufen und miteinander verglichen. Mit Hilfe aufwändiger Berechnungsverfahren hat sie rekonstruiert, welche Formen sich mit welcher Wahrscheinlichkeit aus welchen gemeinsamen Vorfahren entwickelt haben könnten.

Die Analyse zeigt nun, dass alle heutigen Cyanobakterien von einem einzelligen Urahn abstammen müssen und dass sich die ersten mehrzelligen Formen bereits relativ früh entwickelten. Damit konnte Schirrmeister Beobachtungen aus Fossilfunden bestätigen, wonach die ersten mehrzelligen Cyanobakterien bereits vor 2 Milliarden Jahren existierten.

Wechselvolle Geschichte

Überraschend ist nun, dass sich aus diesen frühen mehrzelligen Formen später wieder Einzeller bildeten. Die Auswertung von Schirrmeister legt nahe, dass die meisten einzelligen Cyanobakterien, die man heute findet, mehrzellige Vorfahren haben. «Die gängige Vorstellung der Evolutionsbiologie ist, dass sich komplexe Formen aus einfachen entwickeln und nicht umgekehrt», erklärt die Forscherin. «Dies ist bei den Cyanobakterien offensichtlich nicht der Fall.»

Bettina Schirrmeister: «Unsere Resultate widersprechen dem Dolloschen Gesetz, wonach die Evolution irreversibel verläuft.»

Die genetische Stammbaumanalyse förderte aber noch eine andere erstaunliche Tatsache zu Tage: Gewisse mehrzellige Formen stammen von Einzellern ab, die wiederum mehrzellige Vorfahren hatten. «Dass sich komplexe Formen zu einfachen zurückentwickeln und diese wiederum hin zu komplexen, ist ein Vorgang, den wir in dieser Form nicht erwartet haben», kommentiert Bettina Schirrmeister den Befund. «Unsere Resultate widersprechen denn auch dem Dolloschen Gesetz, wonach die Evolution irreversibel verläuft und verschwundene Merkmale nie auf dem umgekehrten Weg wieder hergestellt werden können.»

Systematik neu überdenken

Die neuen Resultate stellen auch die gängige Systematik in Frage. Bis vor kurzem ging man bei der Klassifikation der Cyanobakterien davon aus, dass morphologisch ähnliche Formen miteinander verwandt sind – so wie dies bei Tieren und Pflanzen ja auch der Fall ist.

«Aufgrund dieser Annahme kamen die Biologen zum Schluss, dass sich die Cyanobakterien nur sehr langsam entwickelten und dass einige heutige primitive Formen bereits vor sehr langer Zeit entstanden», erläutert Homayoun Bagheri, der als Assistenzprofessor für Evolutionsbiologie Schirrmeisters Dissertation betreut. «Nun zeigt sich, dass die Entwicklung dieser Bakterien möglicherweise viel dynamischer verlief als wir bisher dachten.»

Dass es die Cyanobakterien im Laufe der Erdgeschichte wiederholt geschafft haben, aus Einzellern mehrzellige Formen zu bilden, zeigt nach Ansicht von Homayoun Bagheri, dass dieser Schritt offenbar nicht sehr schwierig zu bewerkstelligen ist. «Als die ersten Eukaryoten auftauchten, aus denen später alle höheren Lebewesen entstanden, existierten mehrzellige differenzierte Cyanobakterien bereits während mehreren Hundert Millionen Jahren», meint der Evolutionsbiologe. «Warum es den Cyanobakterien dennoch nicht gelang, sich wie die Eukaryoten zu höheren Lebensformen zu entwickeln, obwohl sie sogar in der Lage sind, differenzierte Zellen zu bilden, ist für uns nach wie vor ein ungelöstes Rätsel.»