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Wissenschaftsgeschichte

Vererbung als demokratischer Prozess

Das Latsis-Symposium vom 26. bis 28. Mai, organisiert vom Zentrum Geschichte des Wissens und dem Ludwik Fleck Zentrum, steht 2011 unter dem Motto «Science & Democracy». Marianne Sommer, SNF-Förderprofessorin an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der UZH, stellt Wissenschaftler vor, die in den 1930er Jahren die Demokratie biologisch begründen wollten. 
Alice Werner

UZH News: Das Latsis-Symposium 2011 steht unter dem Motto «Science & Democracy». Worum geht es?

Marianne Sommer: Das Symposium soll unter anderem auch an den 50. Todestag von Ludwik Fleck erinnern, den polnischen Mikrobiologen, Mediziner und Wissenschaftshistoriker, dessen Werk in den letzten dreissig Jahren zu einem Klassiker der Wissenschaftsgeschichte geworden ist. Fleck hat die Wissenschaft (genauer das «Denkkollektiv»), wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, trotz gewisser althergebrachter Hierarchien und Rituale als demokratisch beschrieben.

Die wissenschaftliche Community sei dynamisch und offen strukturiert, also grundsätzlich jedem zugänglich; Erkenntnis sei durch demokratische Prozesse wie zum Beispiel das Peer-Review-System und den freien Austausch auf Konferenzen legitimiert. Wissen werde sowohl in der Wissenschaft wie als öffentliche Meinung demokratisch verhandelt, denn das wissenschaftliche Wissen müsse allgemein überprüfbar sein und könne sich nicht – etwa im Gegensatz zum religiösen Glauben – allein auf die Autorität einer Elite berufen. Schliesslich würden die Wissenschaft und ihr Wissen im Dienste des Wohls der Gemeinschaft stehen.

Marianne Sommer, Wissenschaftshistorikerin an der UZH: «Gesellschaftssysteme zu biologisieren, ist unhaltbar.»

Wie hängen Wissenschaft und Demokratie zusammen?

Der Zusammenhang kann auf mehrere Arten hergestellt werden. Als Wissenschaftshistorikerin interessiert mich besonders die Frage, wie Wissenschaft und Demokratie zusammengedacht worden sind. Dabei will ich jetzt ausklammern, dass sich hinter diesen Singularen sehr unterschiedliche Vorstellungen verbergen können. Etwa bei Fleck, indem die Organisation der Wissenschaft und ihre Arbeitsweise als demokratisch beschrieben wird. Eine weitere Möglichkeit ist die Behauptung, gute Wissenschaft benötige eine demokratische Gesellschaft.

Beide Vorstellungen wurden in den krisengebeutelten Zwischenkriegszeit ab den 1930er Jahren von drei jungen britischen Biologen vertreten, die ich mir für das Symposium genauer angeschaut habe: Julian Huxley, Ethnologe und Evolutionsbiologe, Lancelot Hogben, Zoologe und Genetiker sowie J. B. S. Haldane, der später einer der Begründer der Populationsgenetik wurde.

Huxley, Hogben und Haldane waren gut befreundet und setzten sich – unter dem Label des wissenschaftlichen Humanismus – gemeinsam für die experimentelle Biologie ein. Immer Im Zentrum ihrer Überlegungen stand der Versuch, Demokratie biologisch zu begründen.

Mit welchen Argumenten haben die drei Wissenschaftler versucht, die Demokratie biologisch herzuleiten?

Eines der Argumente war ein evolutionsbiologisches. Es beschrieb, wie sich Sozietät im Tierreich entwickelt hat – vom Einzeller über Mehrzeller bis zu ’höheren’ Säugetieren in komplexen Sozialverbänden und dem Menschen als dem letzten Glied. Die einzelne Zelle im Zellverband sei noch stark von aussen gesteuert, aber je komplexer ein Wesen organisiert sei, je höher ein Tier in der Entwicklungsstufe stehe, desto wichtiger würden zwei Aspekte: die Autonomie des Individuums und gleichzeitig die Kooperation der Individuen untereinander.

Die Moral für die Zwischenkriegszeit lag nun darin, dass ein Ausgleich dieser widerstreitenden Kräfte der Selbstbestimmung des Individuums und dem Wohlergehen der Gemeinschaft – zwischen egoistischen und altruistischen Instinkten – für den evolutionären Fortschritt wichtig gewesen war und folglich für eine fortschrittliche Zukunft der Menschheit zentral sei.

Ein weiteres Argument einer Biologie der Demokratie stützte sich auf die neuen Einsichten der Vererbung, die aus der noch jungen Wissenschaft der Genetik kamen: Die Mendelschen Gesetze wurden als inhärent demokratisch beschrieben, indem – entgegen dem gesellschaftlichen Erbrecht – der Zufall eine wichtige Rolle spielt.

Was bedeutete das für die Eugenik?

Die genetische Forschung in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zeigte, dass die Vorstellung eines bestimmten Gens für ein bestimmtes Merkmal zu kurz griff, dass die Prozesse der Vererbung und der Merkmalsausbildung viel komplexer waren. Ein wichtiges Thema war die Natur-Kultur-Frage: Huxley, Hogben und Haldane betonten den Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung eines Organismus, insbesondere beim Menschen.

Damit richteten sie sich gegen eine biologistische Eugenik, deren Exponenten nicht nur hoch komplexe Merkmale wie Alkoholismus für genetisch bedingt hielten, sondern auch davon ausgingen, dass solche unerwünschten Merkmale durch Sterilisation und andere Eingriffe in die Reproduktion aus einer Gesellschaft ausgemerzt werden könnten. Die Eugenik geriet in den Verdacht, ein Instrument der britischen Oberschicht und des Mittelstandes zu sein, das gegen die unteren Gesellschaftsschichten gerichtet war, in denen vermeintlich negative genetische Eigenschaften vermehrt ausgemacht wurden.

Wie ist die Argumentationsstruktur dieser jungen Wissenschaftselite, die Demokratie biologisch untermauern zu wollen, aus heutiger Sicht zu beurteilen?

In dieser Art und Weise vom Tier auf den Menschen zu schliessen, also Gesellschaftssysteme zu biologisieren, ist unhaltbar. Die Probleme fangen bereits damit an, dass das Tierreich so divers ist, dass sich bei entsprechender Recherche für jede Form menschlicher Sozietät eine Analogie finden liesse. Selbst bei unseren evolutionsbiologisch nächsten Verwandten, den grossen Menschenaffen, besteht eine grosse Vielfalt im Sozialverhalten.

Die Argumente von Huxley, Hogben und Haldane für die Demokratie sind auch dadurch anfechtbar, dass sie mit den gleichen Mitteln – nämlich denen der Biologie – argumentierten, wie ihre erklärten Feinde, die den Faschismus und Rassismus über die Evolutionsbiologie und die Genetik zu begründen suchten. Beide Argumentationsweisen sind stark ideologisch geprägt.

Dennoch muss man festhalten, dass diese jungen Wissenschaftler, die sich über Printmedien, Radio und später das Fernsehen an die Öffentlichkeit wandten, wegweisend für ein neues Verständnis von Wissenschaft waren – als eine menschliche Aktivität, die nicht unabhängig von ihrem Kontext in einem Elfenbeinturm stattfindet, sondern die kulturell geprägt ist und zur Entwicklung einer Gesellschaft beträgt. Aus dieser Einsicht schlossen sie, dass Wissenschaftler eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft haben.