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Internationales Jahr der Chemie

Eine romantische Wissenschaft

Chemiker können Heilsbringer oder Giftmischer sein – aber Romantiker? Auf der Eröffnungsfeier zum internationalen Jahr der Chemie, einem gemeinsamen Anlass von UZH und ETH, sprachen die beiden Gastredner Ernst-Peter Fischer und Dieter Seebach von Tradition und Zukunft der Chemie – in launigen wie kritischen Tönen.
Alice Werner

Rämistrasse 74/76: Weisser Naturstein auf dem Fussboden, die Brüstungen der Galerie aus hellem Holz und über den Köpfen eine längsovale Glaskuppel, durch die viel Licht in den ehemals offenen Innenhof fällt: Die Bibliothek im Rechtswissenschaftlichen Institut der UZH – von Stararchitekt Santiago Calatrava als «schwebende Konstruktion» in das Atrium des Gebäudes eingesetzt – ist ein eleganter, architektonisch spektakulärer Raum – und gerade darum für Roger Alberto, Professor für Anorganische Chemie an der Universität Zürich, der richtige Ort, um das internationale Jahr der Chemie 2011 feierlich zu eröffnen.

Denn so wie Architekten «kreative Meisterleistungen» vollbringen, ist auch die Chemie eine kreative, eine schaffende Wissenschaft: «La chimie crée son objet», zitiert Alberto den französischen Chemiker Marcelin Berthelot. «Ausserdem befinden wir uns hier auf geweihtem Boden» – Nobelpreisträger wie Alfred Werner und Paul Karrer schritten einst durch dieselben Gänge und Hallen. Bis 1978 waren die Chemischen Institute der UZH an dieser Adresse unter einem Dach gebündelt.

Roger Alberto, Chemieprofessor an der UZH: Die Entdeckungen der Chemie als Kulturleistungen verstehen.

Kulturleistung Chemie

Die Uno hat es beschlossen, nun lässt sich die Chemie dieses Jahr weltweit feiern. Das Motto: «Chemie – unser Leben, unsere Zukunft». Kultur, so Roger Alberto in seiner Eröffnungsrede zu den Feierlichkeiten in Zürich, sei im weitesten Sinne alles, was der Mensch dank seiner Fantasie selbst gestaltend hervorbringe. Insofern wolle man sich heute Abend von Molekülen und Formeln lösen, den Forschergeist schweifen lassen und die Beobachtungen und Entdeckungen im Fach Chemie ganz bewusst als Kulturleistungen betrachten.

Das Reich der stillen Kräfte

Als erster Gastreferent hält Ernst-Peter Fischer, Wissenschaftshistoriker an der Universität Heidelberg, ein enthusiastisches Plädoyer für eine Wissenschaft, deren Bedeutung in der breiten Öffentlichkeit nur selektiv wahrgenommen wird. «Wenn es knallt, raucht und stinkt, ist das ist für die meisten Menschen Chemie.» Dabei steckt hinter dem Experimentieren mit Stoffen eine eher leise Wissenschaft.

Ernst-Peter Fischer, Gastreferent von der Universität Heidelberg: «Bekennen Sie sich zu Ihrem alchimistischen Erbe.»

Fischer zitiert Justus von Liebig, den Begründer der Organischen Chemie, der 1865 in seinen «Chemischen Berichten» festhielt: «Die Chemie führt den Menschen ein in das Reich der stillen Kräfte, durch deren Macht alles Entstehen und Vergehen auf der Erde bedingt ist, auf deren Wirkung die Hervorbringung der wichtigsten Bedürfnisse des Lebens und des Staatskörpers beruht.» Schon damals musste der Vater der modernen Chemie mit populärwissenschaftlichen Aufsätzen für sein Fach werben.

Berliner Blau dank Alchemie

Heute dient das internationale Jahr der Chemie als Imagekampagne für eine Wissenschaft, die von Vielen ausschliesslich mit giftigen Stoffen, Umweltkatastrophen und Medikamentenskandalen in Zusammenhang gebracht wird. Ernst-Peter Fischer rät den versammelten Chemieprofessoren von UZH und ETH sich stolz zu den Kulturleistungen ihres Fachs zu bekennen: Was wäre die bildende Kunst ohne ihr «Berliner Blau», einer 1706 erfundenen abenteuerlichen Mischung aus getrocknetem Tierblut, Weinsteinsalz und Salpeter? Titzian, Canaletto: Womit hätten diese grossen Meister gemalt ohne den künstlich hergestellten Farbstoff mit der zehnfach höheren Intensität als herkömmliche Blaupigmente? Was wäre Goethes «Faust» ohne die geheimnisvollen Experimente im Laboratorium? Fischer ermuntert sein Publikum: «Bekennen Sie sich zu Ihrem alchimistischen Erbe!»

Und wo stünden die Astronomen ohne die Spektralanalyse, das wichtigste Handwerkszeug, um Informationen über fremde Himmelskörper zu erfahren? «Erst die Chemie hat doch entdeckt, dass wir in einem Universum leben. Wie kann man da behaupten, das Fach verfüge über keine Weltbilder?»

Vermutlich, so folgert Fischer aus seinen vorgetragenen Anekdoten, Zitaten und Enzyclopädieeinträgen, stecke das «Problem der Chemie in folgendem Zwiespalt: eine exakte, aufgeklärte-aufklärende Wissenschaft zu sein und zugleich das Gegenstück zur Aufklärung zu repräsentieren.» Fischer meint damit die Kultur der Romantik, das Sehnsuchtsvolle, Kreative, Suchende, Handelnde, Progressive, das die Epoche damals prägte. Der Chemiker als Romantiker? Im Jahr der Chemie scheint alles möglich.

Basel goes East

Dieter Seebach, emeritierter ETH-Professor am Departement für Chemie und Angewandte Biowissenschaften, stellt als zweiter Gastredner handfestere Begründungen für das «Kommunikationsproblem zwischen der Gesellschaft und der Chemie» vor: «Wir verwenden – im Unterschied zu anderen Disziplinen – dieselbe Terminologie für Technologie und Unfälle.» Während in der Chemischen Industrie «Chemieunfälle» passieren, kommt es in der Bauindustrie oder im Maschinenbau nicht etwa zu «Physikunfällen», sondern zu «Einstürzen» und «Stromausfällen».

Dieter Seebach, emeritierter ETH-Professor am Departement für Chemie und Angewandte Biowissenschaften, konstatiert ein Kommunikationsproblem zwischen der Gesellschaft und der Chemie.

Dies könne jedoch nicht erklären, warum der Anteil an Schweizern unter Chemie-Doktoranden, Postdocs und Professoren an der ETH in den letzten Jahren stark gesunken ist. Seebach sieht vielmehr einen Zusammenhang mit weitgreifenden Veränderungen in der chemischen Industrie: «Unter Globalisierung versteht man in Basel heute: fusionieren und diversifizieren.» Nur wer sich vorstellen könne, im Ausland, zum Beispiel in Asien, zu arbeiten, komme für Chemieunternehmen als Mitarbeiter überhaupt in Frage. Denn die Zukunft der chemischen Wissenschaften, glaubt Seebach, liege heute nicht mehr in grossen Konzernen in der Schweiz, sondern in erfolgreichen Auslagerungen und kleineren Tochterfirmen in China oder Indien.

Humbold lässt grüssen

Negativ empfindet der Emeritus die steigende Anzahl an Stiftungsprofessoren – «Forschungsarbeitern, die von Unternehmen an die Hochschulen geschickt werden» – sowie die Tendenz, Wissenschaftler mehr nach bibliometrischen Gesichtspunkten als nach ihrem kreativen Potential zu beurteilen: «Anstatt die Veröffentlichungen zu zählen, sollten wir sie lieber lesen.»

Wenn die Schweiz als Chemiestandort überleben wolle, so Seebach, müsse sie ihre wichtigste Hausaufgabe in Angriff nehmen: die Förderung junger Wissenschaftler durch eine stärke Fokussierung auf den Bereich der Lehre. – Wer sich 2011 nicht zur Alchemie bekennen oder unter die Romantiker gehen möchte, kann es also auch ganz bürgerlich mit Humbold und seinem Bildungsideal versuchen.

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