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Revolution in Ägypten und Tunesien

Die islamische Demokratie ist möglich

Freiheit, Menschenrechte, das Ende von Korruption, Willkür und Gewalt – danach sehnen sich die Menschen im arabischen Raum. Aber ist ein demokratischer Rechtsstaat auch mit der Scharia vereinbar? Ein Gespräch mit Niina Tanskanen, Studentin der Islamwissenschaft, und Doktorand Urs Gösken vom Orientalischen Seminar über die Revolutionen in Ägypten und Tunesien.
Alice Werner

Frau Tanskanen, Sie sind unmittelbar nach Beginn der Proteste nach Tunesien gereist und einen Monat vor Ort geblieben. Wie haben Sie die Revolution dort erlebt?

Niina Tanskanen: Im Vorfeld konnte man regelrecht spüren, wie die alles beherrschende Angst nach und nach von den Menschen abfiel. Im Internet und in der Musikszene wurde plötzlich heftig diskutiert und dann gingen die Menschen in Massen auf die Strasse, um ihre Meinung kund zu tun und lautstark Kritik zu üben. Dieser unglaubliche Mut, das gab es vorher nicht.

Urs Gösken: Dasselbe Phänomen lässt sich auch in Ägypten beobachten: Die Barriere der Angst – und damit das entscheidende Mittel der repressiven Machthaber, das Volk zu kontrollieren – ist gefallen. Die Menschen fordern nicht länger Zugeständnisse oder Gunstbezeugungen von der Regierung, sondern ihre Rechte als Staatsbürger. In Blogs liest man immer wieder Schlüsselsätze wie: Es ist unter unserer Würde als Araber, sich von Tyrannen beherrschen zu lassen. Bislang haben sich ja gerade die Machthaber als Bewahrer der arabischen Ehre und Weltgeltung stilisiert. Und jetzt werden sie an genau diesem Punkt angegriffen: Ihr nehmt uns unsere Würde, anstatt sie zu verteidigen. Das lässt auf eine tiefe Wandlung schliessen. Das Selbstverständnis der Menschen im arabischen Raum ändert sich gerade massiv.

Urs Gösken und Niina Tanskanen: Islam und Demokratie schliessen einander nicht aus.

Wie reagieren die Menschen in Ägypten und Tunesien auf die Umwälzungen in Politik und Gesellschaft?

Niina Tanskanen: Die unbeschwerte Feststimmung ist in Tunesien vorbei. Die Menschen sind erleichtert, aber auch verunsichert: Plötzlich werden sie auf den Ämtern freundlich behandelt, die Polizisten verhalten sich korrekt. Gleichzeitig hört man Stimmen – auch von Menschen, die stark in die Demonstrationen involviert waren – die Ex-Präsident Ben Ali zurück wünschen. Einige fürchten sich auch vor einem Machtzuwachs der Islamisten. Neulich wurde eine friedliche Kundgebung für eine säkulare Neuschreibung der Verfassung von islamistischen Gegnern gestört, die eine neue tunesische Fahne mit dem aufgedruckten Glaubensbekenntnis «Es gibt keinen Gott ausser Gott und Muhammad ist sein Prophet» präsentierten. Auf der einen Seite fragen sich die Tunesier zu recht: Wo bleibt hier die Demokratie? Auf der anderen Seite müssen sie erst noch lernen, dass sich in einer demokratischen Ordnung auch politische Randgruppen im Sinne der Meinungsfreiheit äussern dürfen.

Urs Gösken: Viele Menschen hoffen jetzt inständig, dass die Korruption endgültig aus dem politischen und gesellschaftlichen System eliminiert wird. Ein Beispiel: Wer in Ägypten bis dato als Primarlehrerin eine Familie ernähren musste, war aus ökonomischen Gründen gezwungen, seine Schüler zu erpressen: Entweder sie zahlten für Privatstunden, oder sie fielen bei der nächsten Prüfung durch. Korrupt zu sein, so scheint mir, ist in Ägypten längst nicht mehr nur eine Frage persönlicher Bereicherung gewesen, sondern für viele zu einer Überlebensfrage geworden.

Weder im neu gebildeten ägyptischen Kabinett noch in der tunesischen Übergangsregierung sind Politikerinnen vertreten. Gleichwohl hat man auf den Fernsehbildern viele Frauen unter den Demonstranten gesehen.

Niina Tanskanen: Das stimmt. Unter den jungen Leuten und der gut ausgebildeten Neuen Mitte, die mehrheitlich an den Demonstrationen teilgenommen haben, waren viele Frauen. Die Proteste haben eine feministische Bewegung ausgelöst, die hoffentlich zu fruchtbaren Debatten über die Rolle der Frau in der arabischen Welt führen wird.

Urs Gösken: Ich habe in den arabischen Medien Interviews mit Vätern gesehen, die auf die Frage, warum sie ihren Töchtern erlaubten, an Demonstrationen teilzunehmen, antworteten: Unsere Kinder tun jetzt das, was wir seinerzeit für sie hätten tun sollen. Wir müssen uns schämen, nicht sie. Es gibt offenbar ein generationenübergreifendes Verständnis für die Anliegen der Demonstrierenden.

Alle Demonstranten – von Marokko bis Iran – rufen nach Demokratie und Freiheit. Aber ist eine islamisch geprägte Demokratie überhaupt denkbar?

Urs Gösken: Natürlich. Kein Demonstrant fragt sich: Soll ich Muslim sein oder Demokrat? Für sie steht die Vereinbarkeit von demokratischer Regierungsführung und Wahrung kultureller, und damit auch religiöser Authentizität nicht zur Debatte. Gerade die gemässigten Muslime in der Türkei gelten zurzeit als Beispiel für die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam – selbst in so fernen Ländern wie Indonesien und Malaysia.

Neben dem Argument, dass eine freiheitliche demokratische Ordnung auch die ungehinderte Ausübung der Religionen erlaubt, sei vermerkt, dass die Demokratie ganz im Sinne des Korans die Eigenständigkeit des Einzelnen fördert. Hier ist also nicht die Religion das Problem, sondern die Diktatur. Abgesehen davon lässt sich das Verhältnis des Islam zu der Demokratie nicht auf einen Nenner bringen: Von Zustimmung ohne Wenn und Aber auf der einen bis Ablehnung ohne Wenn und Aber auf der anderen Seite lässt sich unter Muslimen so ziemlich jede Haltung zur Demokratie finden.

In einem säkularen Staat wie Tunesien üben vielen Menschen seit den Unruhen ihre Religion öffentlich aus. Wie bewerten Sie dies?

Niina Tanskanen: Männer mit Vollbart oder Palästinensertuch mussten bislang mit Sanktionen rechnen. Jetzt tragen die Menschen religiöse Zeichen in der Öffentlichkeit und treffen sich auf Plätzen zum gemeinsamen Freitagsgebet. Mich hat diese Entwicklung sehr überrascht. Aber offensichtlich geniessen es die Tunesier gerade, das Religiöse nun auch im öffentlichen Alltag, auf der Strasse, ausleben zu können.

Urs Gösken: Das zeigt doch, dass der Islam vom Volk nicht als Bedrohung für Freiheit und Demokratie angesehen wird. Im Übrigen wurden die Revolten ja nicht im Namen der Religion geführt. Christen haben friedlich neben Muslimen demonstriert. Nun sieht man in der Möglichkeit der freien Religionsausübung und des gerechten Nebeneinanders einfach ein Zeichen von Freiheit. An diesem Punkt werden sich die neuen Regierungen bewähren müssen.

Wie gross schätzen Sie die Gefahr ein, dass im Nahen Osten extremistisch religiöse oder nationalistische Gruppen die Macht an sich reissen?

Urs Gösken: Übergangsphasen sind immer mit Risiken behaftet. Natürlich besteht die Möglichkeit, dass die demokratische Revolte in Arabien von extremistischen Richtungen vereinnahmt wird. Oder dass am Ende alles beim Alten bleibt. Ganz egal, wie puristisch man verfährt: Man kommt gar nicht umhin, erst einmal mit einem Teil des alten Personals weiter zu machen.

Politische Kaderleute kann man austauschen, nicht aber zum Beispiel den gesamten Polizeiapparat. Dennoch wissen die Menschen aus der Historie, dass man manchmal Todesmut beweisen muss, wenn sich etwas ändern soll. Im arabischen Raum gab es ja schon oft Umstürze. Auch die Ben-Ali-Regierung in Tunesien sowie die Mubarak-Regierung in Ägypten sind durch Revolutionen an die Macht gekommen. Die ägyptischen Demonstranten, die zu einem grossen Teil der Mittel- und Oberschicht angehören, werden sich ihre bisherigen Erfolge nicht einfach wieder entreissen lassen. Und die Strahlkraft Ägyptens auf die umliegenden Länder ist nicht zu unterschätzen.

Ist es denkbar, dass sich revolutionäre Kräfte über Ländergrenzen hinweg zusammenschliessen?

Urs Gösken: Die moralische Solidarität der Länder untereinander im Namen des Arabertums und des Islam ist auf jeden Fall sehr hoch. Man sympathisiert mit den Aufständischen im Nachbarland.

Niina Tanskanen: Die Tunesier etwa sind unglaublich stolz und froh, dass der Revolutionsfunken auf Ägypten übergesprungen ist.

Urs Gösken: Die gemeinsame Sprache sowie die Satellitenmedien, die in allen Ländern konsumiert werden, und die viel dazu beigetragen haben, die Proteste massenwirksam erscheinen zu lassen, sind sicherlich auch identitätsstiftend. Aber einen grossen islamischen Einheitsstaat wünscht sich wohl niemand. In der Vergangenheit wurden Einheitsfantasien ja gerade von repressiven Machthabern wie Gaddafi angeregt. Die Entwicklungen im eigenen Land beschäftigen die Menschen dann doch am meisten. Treffend fand ich den Satz einer Libyerin, die neulich in einem Interview aussagte: «Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Freude an meinem Land.»