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Politische Philosophie

Die Freund-Feind-Logik greift zu kurz

Das «Fremde» ist Thema einer öffentlichen Vortragsreihe an der Universität Zürich. Einer der Referenten ist der Philosoph und emeritierte Professor für Politische Philosophie Georg Kohler. In einem Essay schreibt er für UZH News über die Figur des Fremden in der Politischen Philosophie. Mit einem Nachsatz zur eidgenössischen Diskurslage. 
Georg Kohler

«Das Fremde» ist eine Kategorie, die für die Politik (und darum auch für die Politische Philosophie) von grösster Bedeutung ist. «Das Fremde» kann für das Ausgegrenzte, das Externalisierte stehen, und damit für all dies, was zugleich die Grenze zu dem bildet, was das Eigene und selbst zu Bestimmende darstellt. «Das Fremde» kann aber auch als das herausfordernd Andere verstanden werden, als das Neue und inspirierend Erneuernde, als etwas, das ins vertraut Heimatliche zu integrieren möglich, gar förderlich ist.

Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich die gesellschaftlichen Reaktionen ebenso wie die Reflexionen der Philosophie. Und zwischen diesen beiden Extremen kann das Fremde sowohl zum «Feind» werden, also zu demjenigen Anderen, an dem ex negativo abzulesen ist, wer der «Freund» ist, als auch zum Inbegriff des interessant Ausser-Ordentlichen, durch dessen Begegnung wir über uns selber hinauszuwachsen und die eigene Herkunftsgebundenheit zu überschreiten veranlasst werden.

Philosophieprofessor Georg Kohler: «Das Fremde ist eine Kategorie, die für die Politik (und darum auch für die Politische Philosophie) von grösster Bedeutung ist.»

Wenn man die zwei Alternativen auf philosophische Antworten und Theorien beziehen will, kann man die erste zum Beispiel mit Carl Schmitt und seinem auf die Freund/Feind-Differenz gegründeten «Begriff des Politischen» beziehen, die andere auf Richard Rortys Vorstellung von der Sprache als einem prinzipiell gleichberechtigten Nebeneinander von Überzeugungssystemen und Vokabularien, die sich zwar wechselseitig bestreiten, aber auch gegenseitig erweitern können und damit für einander toleranter werden.

Das Fremde als das Kranke oder das Böse

Im Folgenden möchte ich nicht diesen Gegensatz Schmitt versus Rorty oder «Begriff des Politischen» versus «Pragmatismus als Theorie der Überredung» ausarbeiten, sondern eine dazu leicht querliegende, aber für die Kategorie des Fremden ebenso aufschlussreiche Paarung einführen: den Unterschied zwischen der «Politik der Feindschaft» und der «Politik der Klinik». Dazu angeregt hat mich übrigens das letzte Buch des amerikanischen Politologen Samuel Huntington mit dem Titel «Who are we? Zur Krise der amerikanischen Identität», das im Jahre 2004 erschienen ist. Unter dem Blickwinkel der Gegenüberstellung: «Politik der Feindschaft» versus «Politik der Klinik» lässt es sich sehr elementar mit der Frage verbinden, wie dem Fremden zu begegnen ist. In geradezu klassischer Weise plädiert es nämlich für eine Politik der Feindschaft und der Selbstbehauptung.

Richtungsweisend für die aktuelle politische Diskussion: der amerikanische Politologe Samuel Huntington (1927–2008), der über die Krise der amerikanischen Identität schrieb.

Probiert man den Gegensatz – «Politik der Klinik» versus «Politik der Feindschaft» – strukturell zu kennzeichnen, dann stösst man rasch auf den Unterschied von Inklusion und Exklusion. Die «Politik der Klinik» will das Gefährliche, Widerwärtige, Destruktive durch Integration bewältigen; sei es durch Einsperrung und Isolation, sei es durch therapeutische Behandlung und durch das Versprechen auf Heilung. Das Modell dieser Politik ist das Verhältnis säkularer Gesellschaften zu Menschen mit paranoid religiöser Besessenheit. Die «Politik der Feindschaft» hingegen arbeitet nach den Mustern der frontalen Abwehr, der Aussperrung und der radikalen Vertreibung. Das Versprechen, auf das sie setzt, ist nicht Heilung, sondern die Idee der Tilgung des Verdorbenen. Je nachdem kann das Fremde also als das Kranke oder als das Böse aufgefasst werden.

Zwischen Multikulturalität und starker Separation

Die «Politik der Klinik» besitzt einen starken Bezug zur Utopie des weltumspannenden Friedens und einen schwächeren zur Idee bedingungsloser Selbstbehauptung. Sie neigt zum Lob der pluralen Identitäten und zur Unterstellung menschlicher Friedfertigkeit. Gerade umgekehrt verhält es sich bei der «Politik der Feindschaft». Sie misstraut jeder weit ausgreifenden Friedenshoffnung, und sie will trennscharfe Entweder/Oder-Entscheide. Die eine experimentiert mit den Möglichkeiten des Sowohl-als-auch; die andere verweist auf die Notwendigkeit klarer, das heisst unzweideutiger Verhaltensregeln. Die eine will das Fremde durch eine Theorie und Praxis der Multikulturalität integrieren, die andere will sich durch den Schutz starker Separationen von ihm nicht infizieren lassen.

Die andere Seite begreifen

Ich will diese Analyse nicht länger fortsetzen. Wichtig ist jedoch die (vielleicht für beide Seiten unerwartete) Einsicht, dass keine der Positionen a priori die richtige ist. Es gibt Situationen, in denen es ratsam ist, einen sehr entschiedenen Widerspruch zu markieren, und es gibt Lagen, da vermittlungs- und selbstkritische Reflexionsbereitschaft die zweifellos vernünftigere Variante formulieren. Wann und wo das aber jeweils gegeben erscheint, lässt sich in der Praxis weder abstrakt vorhersagen, noch ganz genau ausrechnen. Denn Praxis ist allemal Handeln im Blick auf die Zukunft, ein Wählen zwischen Optionen, und darum ist Praxis abhängig von vorgegebenen Erwartungen. Erwartungen aber spiegeln stets Annahmen und Überzeugungen, die uns zunächst aus geschichtlichen Erfahrungen, überpersönlichen Traditionen und kulturellen Prägungen zugewachsen sind.

Wie wir uns im Handeln orientieren, ist geschichtlich und gesellschaftlich vielfach vorgeprägt. Das liesse sich bei der Erklärung der Wahl des erwähnten Gegensatzes darstellen. Etwa bei der leicht zu belegenden Tatsache, dass die USA meist eher zu einer Politik der Feindschaft neigen, während in (West)Europa das Umgekehrte der Fall ist. Zum beiderseitigen Nutzen sollten sich die einen wie die anderen Positionen allerdings aufeinander einstellen; also versuchen, die jeweils andere Seite zu begreifen. Und genau in diesem Sinn sollten «Wir Europäer» uns mit diesem Buch Huntingtons beschäftigen. Es trägt, wie gesagt, den auch für europäische Ohren vielversprechenden Untertitel «Zur Krise der amerikanischen Identität».

Globale und spezifisch amerikanische Identitätskrise

Identität – ? Wer nicht mehr weiss, wer er ist, der ist zum Unglücklichsein und zum Scheitern verdammt. Das ist eine Binsenwahrheit der Individualpsychologie, die meistens (nicht immer) stimmt. Von ihrer Triftigkeit macht Huntington uneingeschränkten Gebrauch, indem er die individualpsychologische These auf das Kollektivsubjekt des amerikanischen Volkes überträgt. Dabei bewegt sich Huntington auf gleichermassen interessante wie riskante Weise zwischen den Polen des engagierten Zeitgenossen und des distanziert eine Entwicklung diagnostizierenden Sozialtheoretikers: «Dieses Buch ist von meinen eigenen Identitäten als Patriot und Wissenschafter geprägt. Als Patriot bin ich zutiefst besorgt, was die Einheit und Stärke meines Landes (...) betrifft. (...) Als Wissenschafter bin ich der Ansicht, dass die historische Entwicklung der amerikanischen Identität und ihr gegenwärtiger Zustand faszinierende und wichtige Gegenstände für gründliche Studien sind.»

Huntingtons Amerikanisches Credo

Als wissenschaftlicher Beobachter besticht Huntington durch die gradlinige, doch keineswegs simplizistische Art seiner Gedankenführung. Er beginnt mit der Definition dessen, was die Identität einer sozialen Gruppe überhaupt ausmacht, bildet die einschlägige Begriffsbestimmung der nationalen Identität und registriert eine, seit 1989 zunehmende globale, aber auch eine spezifisch amerikanische «Identitätskrise». Dann entfaltet er die Elemente der «amerikanischen Identität», die ihr Zentrum in jenem Wertekanon habe, den Huntington das «Amerikanische Credo» nennt.

«Das Credo war (...) das Produkt der durch und durch angloprotestantischen Kultur der Siedler, die im 17. und 18. Jahrhundert die Grundlagen für den amerikanischen Staat legten. Schlüsselelemente dieser Kultur sind: die englische Sprache; das Christentum; religiöses Engagement; englische Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit, von der Verantwortlichkeit der Regierenden und von den Individualrechten; dazu kommen die Werte der protestantischen Dissidenz: ihr Individualismus, ihre Arbeitsmoral und ihre Überzeugung, dass der Mensch die Fähigkeiten und die Pflicht hat, einen Himmel auf Erden, eine ‚Stadt auf dem Berg', zu schaffen.»

Im dritten Teil seines Buches beschreibt Huntington die seiner Meinung nach seit den 70er-Jahren immer heftiger werdenden «Angriffe» auf diese Identität. Eine neue Welle von Immigranten aus Lateinamerika und Asien; universitäre Theorien des Multikulturalismus; die Ausbreitung des Spanischen (Miami gilt inzwischen als die eigentliche City der hispanischen Welt); das Auftauchen aggressiv vertretener Gruppenideologien, die auf Rasse, Ethnizität oder Geschlecht beruhen; nicht zuletzt auch die wachsende Bindung der Wirtschafts- und Finanzeliten an den Kosmopolitismus der globalisierten Zivilisationsmächte: all diese gegenwartstypischen Vorgänge bedrohen und zersetzen nach Huntingtons Deutung systematisch und wirkungsvoll den Kern der amerikanischen Identität, die angloprotestantische Kultur, ihre Besonderheiten.

11. September 2001: eine Zäsur, die den amerikanischen Konservativen Aufwind gab.

Der Feind, der einem sagt, «wer man ist»

Auf der Basis solcher Überlegungen entwirft Huntington im letzten Teil erstens eine Reihe von Zukunftsszenarien und vertritt zweitens seine eigene, «patriotische», auf die Bewahrung des credo erpichte Perspektive. Es sind gerade diese Partien, die den europäischen Leser – den der Politik der Klinik zuneigenden Leser – gleichermassen informieren wie irritieren. Schon das Vokabular der Leitkategorien ist bemerkenswert. Die Rede ist von einer – unvermeidlichen – «Suche nach dem Feind», von der «nationalen Entwurzelung der Eliten» und von den «moralistisch argumentierenden Transnationalen» die den Souveränitätsanspruch der Bundesregierung unterminierten. Wer – vorbereitet durch die Lektüre der eher analytischen Erwägungen des Buches – diese Passagen aufmerksam liest, kann mindestens drei Dinge lernen: Erstens, warum der 11. September 2001 zum Befreiungsschlag zugunsten der seit dem Ende des Kalten Krieges zutiefst beunruhigten amerikanischen Konservativen werden konnte. Nun hatte man wieder den Feind, der einem sagte, «wer man ist». Huntington zitiert zustimmend den im gegenwärtigen Deutschland mehr berüchtigten als berühmten preussischen Historiker Heinrich von Treitschke: «’Der Krieg macht aus dem Volk eine Nation.’ Für Amerika gilt das ganz gewiss.»

Fragilität der Identitäten

Zweitens lernt man so die innere Fragilität der nationalen (und vielleicht überhaupt der meisten) kollektiven Identitäten kennen: Nur, was sich selber als prinzipiell gefährdet erfährt, braucht das Gegenmittel der stärkstmöglichen, auf Freund/Feind-Unterscheidungen drängenden Polarisierung. Drittens zeigt sich am Beispiel der Huntingtonschen Überlegungen wie rasch die Dialektik zwischen der «Politik der Feindschaft» und der «Politik der Klinik» in einen lärmigen Dialog unter Taubstummen (was alle zusammen dümmer macht, als sie eigentlich sein müssten) übergehen kann.

Huntingtons Argumentarium, angewendet auf einen kollektiven Schock wie nine eleven, verwandelt sich sehr rasch in den Instrumentenkasten scharfer Polemik. Jeder – nicht nur der fanatische Terrorist – kann nun zum «Feind» werden, der – indem man ihn so radikal wie möglich bekämpft – die eigenen Reihen zu schliessen hilft und die Elemente der als fragil erfahrenen Gemeinsamkeit stabilisiert.

Das heisst: Tendenziell ist auch der innere, der demokratische politische Gegner ein «Feind»; was schliesslich gestattet, ja geradezu nötigt, ihn so entschieden zu attackieren, wie er es eben verdient. Eine solche Haltung hilft nicht nur dem Selbstgefühl, sie reduziert auch alle Selbstzweifel hinsichtlich der eigenen Stärke; im Kampf mit dem «Feind» darf man sich Zweifel nicht erlauben. – Ich denke, die Logik, die sich hier entfaltet, wird schnell lesbar – und ebenso die Tatsache, dass sie für ein Gut wie beispielsweise die auf den Ausgleich und den Konsens bedachte politische Kultur der Schweiz schädlich ist.

Freilich ist auch in der Logik der konträren «Praxis der Klinik» ein gefährliches Potenzial zu entdecken. Sie hat ja die fatale Tendenz, den notwendigen Entscheidungen auszuweichen, die sich auf dem Feld politischer Ordnungssetzung immer wieder ergeben; nämlich die Grenzen der Toleranz zu hüten, die so etwas wie Toleranz überhaupt erst möglich machen. Das ist für sie sehr viel schwieriger als eine «blosse Abweichung von der Normalität» schön zu reden. Was jedenfalls dann, wenn die Furcht vor dem unvermeidlichen Schnitt zwischen dem Intolerablen und dem Heilbaren überhand nimmt, zur bröckelnden Indifferenz in den gesellschaftlich relevanten Überzeugungen führt. Ein Zustand der auf der anderen Seite sogleich wieder die rabiate Lust aufs Entweder/Oder und auf kräftige Feinbilder nährt; ein Teufelskreis.

Die Figur des Fremden als zentrale Kategorie des Politischen

Ich fasse zusammen: Analysiert man die Mechanismen, die mit den zwei idealtypischen Verhaltenslogiken («Politik der Feindschaft vs. Praxis der Klinik») verhängt sind, stösst man einerseits auf Grundbedingungen der politischen Anthropologie, andererseits auf Kontexte, die einen erkennen lassen, weshalb die Figur des Fremden immer schon eine zentrale Kategorie des Politischen gewesen ist; und man stösst auf die Einsicht, warum diese Figur auch heute, hier, im innenpolitischen Diskurs der Eidgenossenschaft eine so grosse Rolle spielen kann.

Das/der/die Fremde wird zum dunkeln Anderen, das erlaubt, die eigenen Schwierigkeiten – die Probleme durch die Veränderungen der gewohnten Umwelt, die Probleme mit den dadurch nötig gewordenen Anpassungen des Selbstverständnisses, die Probleme mit der Angst vor dem Abstieg – auf die Logik von Freund/Feind-Konstellationen zu verkürzen; eine Operation, die sofort die Projektion der Bedrohungsgefühle auf das Ausgesperrte gestattet – und so die Illusion sich selbst stabilisierender Handlungsfähigkeit ermöglicht. Doch diese Illusion ist am Ende nicht nur leer, sondern schädlich, weil es eigentlich ja darum gehen müsste, die Ursachen der im eigenen Bezirk wohnenden Schwierigkeiten zu erkennen, sie anzuerkennen und sie, in der Absicht auf Selbsterneuerung, zu behandeln.

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