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Ethnografische Filme

Fasziniert vom Alltäglichen

Seit zwölf Jahren realisieren Studierende am Institut für Populäre Kulturen der UZH ethnografische Filme. Einer davon, «Kotztüten», und drei weitere Videos aus dem Hause UZH werden am Festival des wissenschaftlichen Films in Bern am 15. und 16. Oktober gezeigt. 
Brigitte Blöchlinger

Die Lokomotive stösst ein letztes Mal Rauch aus, sie nähert sich dem Bahnhof, dunkel bewamste, wartende Herren setzen sich in Bewegung und begleiten den Zug auf seinen letzten Metern in den Bahnhof. Die Kamera macht keinen Wank, zeichnet einfach auf.

Das Vergnügen an der Wiederholung.

Schon der allererste öffentlich gezeigte Film, «L'arrivée d'un train à la Ciotat» (1895), dokumentierte, wie es um die Jahrhundertwende in einem Bahnhof zu und her ging, und war insofern ein ethnografischer Film. Gemacht haben ihn die französischen Filmpioniere Auguste und Louis Lumière.

Film als kulturelles Gedächtnis

«Seit es Film gibt, wird aufgezeichnet, wie die jeweilige Gegenwart aussieht und wie die Menschen sie gestalten, welche Sitten und Bräuche herrschen und wie der Alltag aussieht», erklärt der Filmemacher Hans-Ulrich Schlumpf, der seit zwölf Jahren am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich als Lehrbeauftragter die Videoprojekte leitet. «Die ethnografische Aufzeichnung hat einen historischen Wert, der unverzichtbar ist für das kulturelle Gedächtnis der Menschen», ist Schlumpf überzeugt.

«Seit es Film gibt, wird aufgezeichnet, wie die jeweilige Gegenwart aussieht»: Filmemacher Hans-Ulrich Schlumpf, seit zwölf Jahren Lehrbeauftragter am Institut für Populäre Kulturen für die Videoprojekte.
Das Archiv: fast eine Arche Noah

In der Schweiz ist es die Abteilung Film der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde (SGV) – der Hans-Ulrich Schlumpf vorsteht –, die das kulturelle Gedächtnis in Form von ethnografischen Filmen verwaltet. Mittlerweile besteht das Archiv aus rund neunzig dokumentarischen Filmen. Von den vierziger Jahren bis in die neunziger sammelte die SGV nicht nur, sondern drehte auch selbst, mit Unterstütztung des Fernsehens, ethnografische Filme. Viele von ihnen zeigen altes Schweizer Handwerk oder befassen sich sonst mit der Arbeitswelt.

In den neunziger Jahren änderte sich die Situation: Das Fernsehen finanzierte nicht mehr mit, 16mm- und 35mm-Film wurden zu teuer, und der Verleih brach zusammen; die Schulen interessierten sich nicht mehr für das Filmmaterial. «Das Archiv der SGV wurde zur Arche Noah», erzählt Schlumpf.

Die Universitäten führen die Tradition fort

Auf Antrag von Hans-Ulrich Schlumpf beschloss die SGV 1997 eine Konzeptänderung. Neu sollten Studierende an den Volkskundlichen Seminaren der Universitäten Zürich und Basel so weit ausgebildet werden, dass sie ethnografische Filme machen können. Dass Video in dieser Zeit digital und damit einfach zu bedienen wurde, war dabei hilfreich. 1998 startete das erste Projektseminar unter Anleitung des Filmprofis, zum Thema «Ethnografische Recherchen im Hauptbahnhof Zürich». Mittlerweile sind dreissig Filme realisiert worden.

Enge Betreuung der Studierenden

Alle zwei Jahre führt das Institut für Populäre Kulturen auf Seminarstufe ein Videoprojekt durch. Maximal vier Gruppen à zwei bis drei Studierende nehmen daran teil. Mehr erlauben die Ressourcen nicht, denn Videomachen braucht viel Anleitung, Zeit und Geld. «Wir sind stolz auf unsere gute Betreuung der Studierenden», sagt Institutsleiter Professor Thomas Hengartner. In der Regel sind die Studierenden Laien und haben keine filmische Vorbildung.

Das Vergnügen an der Wiederholung

Das derzeit laufende Projektseminar Video heisst «Das Vergnügen an der Wiederholung». Die sieben Studierenden, die in diesem Rahmen während zwei Semestern ihre Videos realisieren werden, haben selbst recherchiert, was genau sie in ihrem Video untersuchen möchten. Die Studentinnen Judith Schubiger und Corinna Steiner zum Beispiel konnten eine entfernt bekannte Familie, die seit 15 Jahren ihre Ferien auf einem Zeltplatz an der Maggia im Tessin verbringt (siehe Video), dazu bringen, als «Studienobjekt» mitzumachen.

«Das Vergnügen an der Wiederholung» heisst das aktuelle Projektseminar Video am Institut für Populäre Kulturen – ein Video porträtiert eine Familie, die jedes Jahr auf einem Zeltplatz an der Maggia Ferien macht.
Alles machen die Studierenden selbst

Beim Filmen sind die Studierenden für alles selbst zuständig: Sie machen vorgängig die Recherche, stellen vor Ort die Interviewfragen, geben Regieanweisungen, führen die Kamera und kontrollieren den Ton. Nach dem Dreh erarbeiten sie ein Schnittkonzept und schneiden mit Hilfe professioneller Cutter den Film. Filmemacher und Projektleiter Hans-Ulrich Schlumpf und die beigezogenen Fachleute begleiten sie während des ganzen Prozesses. «Es gehört zum ethnografischen Arbeiten, dass man sich kontinuierlich austauscht mit einer Person, die erfahren ist», sagt Institutsleiter Thomas Hengartner.

Von Heidi bis Handy

Vielfältig sind die ethnografischen Filme, die bisher am Institut für Populäre Kulturen von Studierenden realisiert wurden. Es entstanden seit 1998 unter anderem ethnografische Betrachtungen zur «Urschweizerin» Heidi, zum Gebrauch des Handys, zur Ästhetik der Wohnwagen-Kultur, zu Kindertreffpunkten und Jugendszenen in Zürich Nord und zum Umbruch in einem Bergdorf am Hinterrhein.

In einer vom Nationalfonds unterstützten Dissertation werden zur Zeit auch der «ethnografische Film in der Schweiz» allgemein und die Filmbestände der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde im besonderen untersucht.

«Das Institut für Populäre Kulturen der UZH ist in der Fachwelt bekannt für die wissenschaftliche und filmische Qualität seiner Videos»: Professor Thomas Hengartner, seit August 2010 Leiter des Instituts.
Neuer Professor und Institutsleiter

Seit dem 1. August 2010 ist Thomas Hengartner Professor und Leiter des Instituts für Populäre Kulturen an der UZH. Zuvor war er vierzehn Jahre lang Professor an der Universität Hamburg. Obwohl erst drei Monate in Zürich, ist für ihn klar, dass er die Tradition des ethnografischen Films weiterführen wird.

«Das Institut für Populäre Kulturen der UZH ist in der Fachwelt bekannt für die wissenschaftliche und filmische Qualität seiner Videos», sagt Hengartner. «Das sage ich nicht, um Blumen zu verteilen, sondern weil sie wirklich einen guten Ruf haben.»

Die Studentinnen Judith Schubiger und Corinna Steiner diskutieren ihr Video.
Preisgekrönte Filme aus Zürich

So erhielten selbst Filme auf Seminarstufe schon Preise: «Nordbrüggli» (2007), ein Video über die gleichnamige «Beiz» in Zürich-Wipkingen, wurde am Festival von Science et Cité als bester Seminarfilm der ganzen Schweiz ausgezeichnet. Ein Glücksfall war auch die Dissertation von Lisa Röösli, deren «Hinterrhein – Umbruch im Bergdorf» (Film 2005, Buch 2010) in den Kinos und im Fernsehen der Schweiz und in Deutschland lief.

Schriftlich kontextualisieren

Der ethnografische Film bildet die Realität nicht einfach ab, sondern die Filmenden verdichten, wählen aus, verkürzen, wählen einen Blickwinkel, einen Standpunkt, einen Fokus – ethnografische Filme interpretieren die Realität also immer stark. Das macht das Medium Film geeignet für die Ethnografie, so Thomas Hengartner, denn auch diese wählt aus und interpretiert das Vorgefundene.

Was der Film nicht leisten kann, ist die Kontextualisierung. Diese muss in schriftlicher Form geschehen. So wird zu jedem Lizentiat oder zu jeder Dissertation auf Video auch eine umfangreiche schriftliche Arbeit verfasst, die das methodische Vorgehen, die Fragestellungen, die Entstehungsgeschichte, das Schnittkonzept, die theoretische Einbettung und Deutungsangebote liefert.