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Flut in Pakistan

Enorme Langzeitschäden

Urs Geiser ist Geograph an der Universität Zürich und Südasien-Experte. Er verfolgt die Entwicklung in Pakistan seit über zwanzig Jahren. Für UZH News gibt er eine Einschätzung der aktuellen Lage des Landes nach der verheerenden Flut. 
Urs Geiser

Die Flut nahm am 8. August ihren Anfang im über 8000 Meter hohen Gebirge Karakorum im Nordwesten Pakistans und setzte sich wie eine langsame Welle dem grossen Fluss Indus entlang fort. Die Wassermassen waren so riesig, dass sie nach neuesten Schätzungen 1600 Menschen töteten, 1,2 Millionen Häuser zerstörten, riesige Landflächen über eine Distanz von 1500 Kilometer überfluteten und dadurch 17,2 Millionen Menschen in ihrer Existenz trafen.

Von Trinkwasser und Nahrung abgeschnitten

Pakistaner: Blick in eine ungewisse Zukunft.

Diese Zahlen zeigen das gewaltige Ausmass der Zerstörung. Durch die Fluten wurden die Menschen von Trinkwasser und Nahrung abgeschnitten, sie mussten in höher gelegene Gebiete flüchten und brauchen dort jetzt Notunterkünfte und Versorgung mit dem Nötigsten. Dazu gehört auch medizinische Versorgung. Viele Menschen sind von den Strapazen geschwächt. Sehr viele konnten aber nicht rechtzeitig weg und müssen nun per Helikopter evakuiert werden, denn unzählige Strassen und Brücken wurden zerstört, was die Rettung auf dem Landweg verunmöglicht.

Schätzungsweise 500 Millionen US-Dollar braucht Pakistan jetzt als erste Nothilfe. Es dauerte sehr lange, bis die Unterstützung aus dem Ausland anlief. Auch in der Schweiz brauchte es seine Zeit, bis die Leute spendeten.

Verwandtschaft und soziale Netzwerke springen ein

In Pakistan selbst hat schnell eine sehr grosse Hilfsbereitschaft eingesetzt. Verschiedene karitative Organisationen haben Sammelkonten eingerichtet, reichere Leute kaufen Nahrungsmittel und mieten einen Lastwagen, um zu den Flutgebieten zu fahren. In den letzten Jahren sind rund fünfzig private Fernsehstationen entstanden, und viele von ihnen führen ebenfalls Sammelaktionen durch, auch grosse Zeitungsverlage. Hinzu kommt, dass diese Katastrophe auf den Fastenmonat Ramadan fällt und dadurch wohl die Solidarität unter sehr vielen Pakistani besonders hoch ist.

Die Hilfsbereitschaft unter Verwandten und Nachbarn ist in Pakistan gross und jetzt, in Zeiten der Not, wichtig für das Ueberleben.

Die wichtigsten sozialen Netze in Pakistan sind Verwandtschaftsbeziehungen, die sich oft mit Nachbarschaft decken. Es sind diese Netzwerke, welche in der Flutkatastrophe wohl die wichtigste Hilfe anbieten – etwa im Organisieren der Flucht vor dem Wasser. Wer nicht in solche Netzwerke eingebettet ist, hat es extrem schwer.

Armee am besten organisiert

Die Armee ist die am besten organisierte Institution des Landes, gut ausgerüstet, diszipliniert und überall präsent. Sie leistet ohne Zweifel enorme Hilfe; sie verfügt auch über die in der Notsituation so dringend benötigten Helikopter oder Boote, und durch ihre Kontakte sind auch viele amerikanische Helikopter im Einsatz.

Überforderte staatliche Verwaltung

Eine sehr grosse Herausforderung in Pakistan ist die Etablierung einer legitimen lokalen Verwaltung. Damit sind Verwaltungsstrukturen und gewählte Räte auf Gemeinde- und Distriktebene gemeint – Strukturen, die in solchen Katastrophensituationen wenigstens ein Minimum an lokaler Hilfe sicherstellen könnten. Es gab in der kurzen Geschichte Pakistans verschiedene Versuche, solche Lokalbehörden zu initiieren, alle wurden aber wieder aufgehoben.

Es bestehen zwar Institutionen wie eine staatliche Flutkommission oder eine nationale Katastrophenhilfe, doch deren Reaktion kam sehr spät, und sie scheinen auch von der grossen Herausforderung der Koordination der Katastrophenhilfe überfordert zu sein.

Doch gilt es auch zu erwähnen, dass sehr viele Beamte draussen auf dem Land enormen Einsatz zeigen und mit den wenigen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln das Bestmögliche tun.

Zwiespältige Rolle der politischen Elite

Einen sehr zwiespältigen Eindruck hinterlässt die politische Elite. Regierungspartei und Oppositionspartei (mit ihren jeweiligen Alliierten) waren bisher nicht in der Lage, ihre Spannungen wenigstens während dieser nationalen Krise beizulegen, und das ist für viele Pakistani bitter.

Schlechte Vorbereitung auf eine Krisensituation

Einige fragen sich, ob die massiven Niederschläge, welche am 29. Juli in kürzester Zeit über dem Karakorum fielen und sich dann tagelang auch im südlichen Pakistan fortsetzten, nicht vorhersehbar gewesen waren. Doch meiner Ansicht nach waren sie das Resultat ganz spezieller und sehr selten eintretender Wetterkonstellationen und somit nicht vorhersehbar.

Die meisten Toten gab es in den Gebirgstälern (im Bild das Swat-Tal vor der Flut).

Eine andere Frage ist das Vorbereitetsein auf eine etwaige Naturkatastrophe – und hier beginnen viele Leute in Pakistan Fragen zu stellen. Es fängt schon mit der Flutwarnung an. Die hierzu zuständige meteorologische Zentralanstalt Pakistans argumentiert, dass sie rechtzeitig gewarnt habe, dass aber die staatliche Verwaltung zu Beginn zu spät reagierte. Hinzu kommt, dass (wie vorhin schon geschildert) keine lokalen Verwaltungsstrukturen bestehen, welche diese Warnungen auch hätten weitergeben können. Die Flut begann in den Bergen, und das Wasser floss dann in die riesige Indus-Ebene, die rund 1500 km lang und extrem flach ist.

Die Flutwelle brauchte Tage, ja Wochen, bis sie den Süden des Landes erreichte. Noch in den letzten Tagen mussten ganz im Süden grosse Städte kurzfristig evakuiert werden, und auch dazu werden nun Fragen gestellt – etwa, warum diese Evakuationen nicht besser organisiert waren, wusste man doch, dass Gefahr drohte.

Hotels zu nahe am Fluss

Zwei weitere Punkte fallen ins Gewicht: Die meisten Toten gab es in den Gebirgstälern. Gerade der obere Teil des Swat-Tales – ein enges langes Tal – war vor dem Krieg mit den Taliban ein beliebtes Ausflugsgebiet für Leute aus Grossstädten wie Lahore, Peshawar oder Rawalpindi. Im Swat-Tal sind eine sehr grosse Zahl von Hotels, Gasthäusern und Ferienunterkünften nahe am Fluss gebaut worden – zu nahe an den potentiellen Gefahrenzonen.

Schlecht unterhaltene Bewässerungskanäle

Der zweite Punkt betrifft die Bewässerungsinfrastruktur des Indus-Tales. Ein breites Band links und rechts des Flusses wird durch ein weit verzweigtes Kanalnetz bewässert und wurde so zu einer der wichtigsten landwirtschaftlichen Anbauzonen des Landes. Bewässerungsinfrastruktur bedeutet Dämme, Stauwehre, Schleusen, Kanäle und Entwässerungsrinnen – alles Bauten, die Unterhalt brauchen (gehen doch sehr viele Bauten auf die Kolonialzeit zurück). Der Unterhalt ist Aufgabe staatlicher Ämter, und seit Jahren wird ihnen vorgeworfen, den Unterhalt zu vernachlässigen. Diese Vorwürfe erhalten nun Nahrung durch die Tatsache, dass viele Schleusen und Dämme brachen und erst dadurch riesige Wassermassen weit hinaus in die äusseren Bereiche der Indus-Ebene gelangten.

Pakistan-Kenner Urs Geiser: «Der grösste Langzeitschaden könnte entstehen, wenn die Bevölkerung das Vertrauen in die Regierung ganz verliert.»

Zum Bewässerungssystem gehören auch Entwässerungsrinnen, welche das Wasser wieder abführen; viele dieser Rinnen sind versandet. Bewässerungsinfrastruktur muss ausserdem bedient werden; so sind Schleusen zu öffnen oder dem Wasserstand anzupassen. Auch hier werden Vorwürfe laut, wonach in verschiedenen Fällen unsachgemässes Vorgehen entweder zum Brechen von Schleusen oder zum Überfluten ansonsten geschützten Landes führte.

Ernte grösstenteils zerstört

Die Langzeitschäden für das Land sind enorm. In den Bergen wurde die Landwirtschaft wie auch die Tourismusinfrastruktur schwer beschädigt. Gesamtwirtschaftlich relevanter sind aber die Schäden in der Indus-Ebene. Zum einen wurde ein grosser Teil der Sommerernte von Reis, Weizen oder Baumwolle zerstört. Zum anderen sollte im September und Oktober für «rabi», das heisst die Winteranbauzeit, gesät werden, was wegen den Wassermassen und dem Schlamm kaum möglich ist.

Riesige Mengen an Nahrungsmitteln fehlen

Kurz: Es werden riesige Mengen an Nahrungsmitteln fehlen. Dies betrifft nicht nur die von der Flut direkt betroffenen Menschen, sondern alle Pakistani. Nahrungsmittelknappheit erhöht die Preise, und schon jetzt sind diese am Steigen. Ein Grossteil der Bevölkerung hat dann enorme Probleme, Nahrung überhaupt noch bezahlen zu können.

Auch der Industriesektor ist betroffen. Die Textilindustrie trägt den grössten Anteil an den Exporteinnahmen. Erste Schätzungen beziffern den Verlust am Rohstoff Baumwolle auf über einen Fünftel. Die sinkenden Exporteinnahmen wiederum beeinflussen die Staatseinnahmen, und Pakistan wird riesige Geldsummen für den Wiederaufbau benötigen.

Schrumpfendes Vertrauen in die Regierung

Der grösste Langzeitschaden aber könnte entstehen, wenn die Bevölkerung das Vertrauen in die Regierung ganz verliert. Und das ist denn auch meines Erachtens die grösste Herausforderung. Pakistan ist nicht ein «failed state» – Pakistan ist eine «democracy-in-the-making».

Wir müssen uns in Erinnerung rufen, dass die Demokratie in Pakistan erst rund sechzig Jahre alt ist, und in dieser Zeit all die Zutaten eines modernen demokratischen Staates zu entwickeln hatte. Dieser Prozess wurde zudem durch mehrere Militärputsche unterbrochen.

Herausforderung für die noch junge Demokratie

Das zentralste Element erscheint mir, dass sich die Menschen als Bürgerinnen und Bürger ernst genommen fühlen. Die Menschen in Pakistan, welche an die Vorteile des demokratischen Systems glauben, müssen nun alles daran setzen, dass diese Vorteile auch ganz konkret die Menschen erreichen, und dies nicht nur in den Zentren, sondern vor allem auch in den riesigen ruralen und von Armut gezeichneten Gebieten des Landes.