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Politologe Adrian Vatter

Die Schweiz - auf dem Weg zu einer Mehrheitsdemokratie?

Für Politologie- Professor Adrian Vatter von der UZH ist Demokratie nicht gleich Demokratie. Er schaut genau hin, wie sich die etablierten Demokratien unterscheiden.
Brigitte Blöchlinger

Die Schweiz, jahrzehntelang das Paradebeispiel für eine Konsensdemokratie, ist «entthront» worden. Von Belgien. Belgien weist eine grössere Parteienvielfalt auf, verfügt über ein proportionaleres Wahlsystem und in der Regierung amtet eine Mehrparteienkoalition. In der Schweiz hingegen nimmt die Partienvielfalt ab, vor allem die kleinen Rechtsparteien wurden von der grossen SVP aufgesogen. Seit neustem ist die SVP, obwohl stärkste Partei, im Bundesrat nicht vertreten. Auch der Verhandlungsstil der Regierung hat sich verändert. Er ist wie das Verhältnis zwischen den Verbänden und dem Staat wettbewerbsorientierter worden. – Das alles zusammen zeigt, dass die Schweiz nicht mehr dem Idealtypus einer Konsensdemokratie entspricht, sondern sich ansatzweise in die Richtung einer Mehrheitsdemokratie bewegt.

Erforscht die Spielarten der Demokratie: der Politologieprofessor Adrian Vatter.

Schwerpunkt Schweizer Demokratie

Professor Adrian Vatter, der im Februar 2008 die Nachfolge des 2006 unerwartet verstorbenen Politologen Ulrich Klöti angetreten hat, untersucht die Ausprägungen von etablierten Demokratien seit gut fünfzehn Jahren. Adrian Vatter vergleicht die Demokratieformen international und auf regionaler Ebene. Vor allem die Besonderheiten der schweizerischen Konsensdemokratie interessieren ihn – mit ein Grund, weshalb Vatter vor einem halben Jahr den Ruf nach Zürich angenommen hat. «Mein Schwerpunkt lag immer auf der Schweizer Demokratie», sagt Vatter, «an der Universität Konstanz, einer sehr lebendigen und interessanten Hochschule, an der ich vorher wirkte, war das weniger gefragt als in Zürich.» In Konstanz hat Vatter denn auch vor allem die Demokratieausprägungen auf der Ebene der deutschen Bundesländer angeschaut.

Daraus ist – gemeinsam mit dem Konstanzer Professor Markus Freitag - ein Lehrbuch entstanden, das im September 2008 erscheinen wird, «Die Demokratien in den deutschen Bundesländern». Mit dieser Publikation schliessen Vatter und Freitag eine Forschungslücke. «Bisher war man überzeugt, die deutsche Demokratie spiele sich vor allem auf Bundesebene ab, die einzelnen Länder würden die Bundesbeschlüsse nur noch implementieren und sich kaum voneinander unterscheiden», so Vatter. Dem ist jedoch nicht so. Die Vielfalt der Demokratieformen in den Bundesländern ist breiter als erwartet.

Erstes Parlament Grossbritanniens, gemalt von Peter Tillemans, 1710

Vergleiche auf regionaler Ebene

Nehmen wir als Beispiel die beiden Bundesländer Berlin und Bayern. In Berlin gibt es viele Parteien, ein stark proportionales Wahlsystem, und es herrscht eine Mehrparteienregierung – alles Merkmale einer Konsensdemokratie. In Bayern hingegen gibt es wenige Parteien, eine starke CSU, und es regiert eine Einparteienregierung – alles Elemente einer Machtkonzentration, wie sie in einer Mehrheitsdemokratie vorherrschen. Allerdings finden sich auch in den Bundesländern nicht reine Typen von Mehrheits- und Konsensdemokratien, sondern in der Regel Mischformen. Verallgemeinernd lässt sich sagen, dass in jenen deutschen Bundesländern, wo nach dem Zweiten Weltkrieg die Briten (z.B. Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen) Besatzungsmacht waren, eher eine mehrheitsdemokratische Ausprägung von Demokratie mit einer starken Exekutive zu finden ist, während dort, wo die Amerikaner (z.B. Bayern und Hessen) waren, sich eher föderale Strukturen und starke Verfassungsgerichte etablieren konnten.

In einem zweiten Schritt will der Politologieprofessor herausfinden, wie sich die unterschiedlichen Demokratieformen auf die konkrete Politik auswirken. Unterscheiden sich die einzelnen Bundesländer in ihrer Sozial- und Wirtschaftspolitik oder führt der zentralstaatliche Einfluss des Bundes dazu, dass sich die Länder in ihren Politikergebnissen kaum unterscheiden? Vatter vermutet, dass sich in den deutschen Bundesländern ähnliche Zusammenhänge beobachten lassen, wie man sie auch international erkennen kann: Je stärker verteilt die Macht in einer Demokratie ist, desto ausgeprägter ist die soziale Umverteilung; je konzentrierter die Macht ist, desto wirtschaftsfreundlicher wird politisiert.

Landsgemeinde in Glarus, 2006

Wertewandel in der Demokratieforschung

Bis in die sechziger Jahre hinein waren die beiden Extreme der Mehrheits- und Verhandlungsdemokratie klar mit Wertungen behaftet. Das britische Modell galt als das einzig richtige (Mehrheitsdemokratie mit Regierung; Parlament und Opposition). Das war deshalb der Fall, weil andere Formen, die auf Machtteilung und Koalition aus waren, wie beispielsweise die Weimarer Republik, vor dem Zweiten Weltkrieg gescheitert waren. Erst in den siebziger Jahren begann mit dem Konzept des holländischen Politologen Arendt Lijphart die «Ehrenrettung» der Verhandlungsdemokratie (auch Konsens- oder Konkordanzdemokratie genannt). Gerade für kleine, multiethnische Staaten wie die Schweiz und Belgien gewährleistet die Verhandlungsdemokratie mehr Stabilität, da die Minderheiten in einer grossen Anzahl Parteien vertreten sind und in der Regierung in einer Koalition und im Parlament mit einem Zweikammersystem repräsentiert werden.

Vatter will die vor zehn Jahren abgeschlossenen Studien von Arendt Lijphart weiterführen und auf die direkte Demokratie ausweiten, die Lijphart seinerzeit ausblendete, die aber in Europa an Bedeutung gewonnen hat. Man denke nur an die Referenden einzelner EU-Mitglieder gegen EU-Beschlüsse.

Vom Umgang mit Minderheiten

Zwei grosse Forschungsprojekte hat Vatter derzeit am Laufen. Zum einen will er (gemeinsam mit Marc Bühlmann und zwei Doktoranden) in einem Nationalfonds-Projekt zur Qualitätsmessung von Demokratie in Schweizer Kantonen forschen. Dazu arbeitet er auch mit dem neu eröffneten Zentrum für Demokratie in Aarau zusammen. Untersucht werden soll unter anderem, wie in den einzelnen Kantonen der Zugang zu partizipativen direktdemokratischen Elementen ist und wie diese genutzt werden, wie «gerecht» das Wahlsystem ist und wie ausgeprägt die Regierungskonkordanz ist – um nur ein paar wenige Parameter zu nennen.

Ob die direkte Demokratie religiöse Minderheiten eher schützt oder benachteiligt, darum geht es in Vatters zweitem Forschungsprojekt im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms NFP 58 «Religion, Staat und Gesellschaft», an dem zurzeit ebenfalls zwei Doktoranden arbeiten. Einen aktuellen Anlass hat das Forschungsprojekt bereits heute, obwohl es noch eher am Anfang steht: voraussichtlich im kommenden Jahr stimmt der Souverän über die Volksinitiative «Gegen den Bau von Minaretten» ab.