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Tinnitus - das Weghören lernen

Was wir hören, entsteht aus dem Zusammenspiel von Gehör und Gehirn. Auch bei Tinnitus spielen die Vorgänge im Gehirn eine wichtige Rolle. Eine Fortbildung an der Universität Zürich informierte über den Stand der Forschung.
Adrian Ritter

Nicht nur Musik im Ohr: Beim Tinnitus produzieren die Neuronen im Hörareal auch ohne Stimulation Signale. 

Es zischt, pfeift oder brummt. Rund vier Prozent der Bevölkerung in den westlichen Ländern haben einen chronischen Tinnitus, also dauernde Ohrgeräusche. Ursache davon ist in den meisten Fällen eine Schädigung des Innenohres, indem beispielsweise durch Lärmbelastung oder einen Hörsturz die Haarzellen beschädigt werden. Tinnitus verursachen oder verstärken können aber auch Beschwerden der Wirbelsäule, im Zahn-Kiefer-Bereich oder beispielsweise Bluthochdruck und Stress.

Fehlender Input

All dies führt aber nicht direkt zu Ohrgeräuschen, denn diese entstehen erst im Gehirn. Besonders deutlich wurde dies, als Tinnitus-Betroffenen der Hörnerv durchtrennt wurde. Sie hörten in der Folge nichts mehr – ausser den Tinnitus.

Erklärbar ist dies mit dem heutigen Modell, wie man sich die Entstehung von Tinnitus vorstellt: Liefert der Hörnerv wegen einer Hörschädigung im Innenohr zuwenig Input an das Hörareal im Gehirn, machen sich dort die Neuronen selbstständig und beginnen, auch ohne Stimulierung Signale zu produzieren. «Es handelt sich um eine Art Phantomgeräusche», sagt PD Dr. Andreas Schapowal, Präsident der Schweizerischen Tinnitus-Liga.

Bei einem akuten Tinnitus besteht die Chance, dass die Hörschädigung wieder rückgängig gemacht werden kann - zum Beispiel mit Medikamenten, welche die Durchblutung des Innenohres fördern. Wichtig ist in jedem Falle die rasche Abklärung durch einen Ohrenarzt.

«Es ist nicht der Körper, sondern der Geist, der am Tinnitus leidet»: PD Dr. Andreas Schapowal, Präsident der Schweizerischen Tinnitus-Liga.

Negative Bewertung verhindern

Beim chronischen Tinnitus lässt sich bisher am Gehör selber keine Heilung erzielen. «Entsprechende Medikamente werden zwar gesucht, bisher allerdings erfolglos», so Schapowal. Helfen kann allenfalls ein Hörgerät, das dafür sorgt, dass die Neuronen wieder akustischen Input erhalten und ihrer ursprünglichen Aufgabe nachgehen.

Überhaupt richtet sich der Blick beim chronischen Tinnitus vor allem auf das Geschehen im Gehirn. Dort tragen bestimmte Hirnareale dazu bei, dass der Tinnitus für einen Teil der Betroffenen zu einer grossen Belastung wird.

Dies hängt damit zusammen, dass der Tinnitus als Sinneswahrnehmung nicht nur gehört, sondern vom limbischen System auch bewertet wird. «Wird er als Gefahr wahrgenommen und löst Angst aus, kommt eine Kettenreaktion in Gang», so der Neuropsychologe Dr. Martin Meyer, Forschungsgruppenleiter am Institut für Neuropsychologie der UZH und am Institut für Neuroradiologie des USZ. «Jede Bedrohung wird vom Gehirn verstärkt beachtet und der Tinnitus entsprechend in der Wahrnehmung lauter.»

«Wird der Tinnitus als Gefahr wahrgenommen und löst Angst aus, kommt eine Kettenreaktion in Gang»: Neuropsychologe Dr. Martin Meyer.

Der Geist leidet

«Es ist nicht der Körper, sondern der Geist, der am Tinnitus leidet», sagt Andreas Schapowal. Er vermutet, dass zwei Drittel der Betroffenen nur leichtgradig betroffen sind: «Bei den meisten Menschen wird das Ohrgeräusch mit der Zeit zu einem erträglichen Begleiter ihres täglichen Lebens. Ziel muss es sein, die Angst vor dem Tinnitus zu verlieren, ihn nicht mehr negativ zu bewerten und die Aufmerksamkeit auf anderes zu lenken.» Auf dem Weg dorthin haben sich gemäss Schapowal unter anderem die kognitive Verhaltenstherapie, Hypnose und Musiktherapie wissenschaftlich nachweisbar als wirksam erwiesen.

Ähnlichkeiten mit Schmerz

Für schwergradig Leidende wurde an der Abteilung für Funktionelle Neurochirurgie am Universitätsspital Zürich in Zusammenarbeit mit der New York University eine neue Art der Behandlung entwickelt. Dem Team um Prof. Daniel Jeanmonod war aufgefallen, dass bei Tinnitus-Betroffenen in gewissen Hirnteilen ähnliche Überaktivitäten bestehen wie bei Schmerzpatienten oder beispielsweise Epilepsiekranken.

Tinnitus-Betroffene haben ähnliche Überaktivitäten im Gehirn wie beispielsweises Schmerzpatienten, ist Prof. Daniel Jeanmonod aufgefallen. 

Diese Überaktivitäten, auch Dysrhythmien genannt, entstehen aus einer erhöhten Interaktion zwischen dem Thalamus, einem Kern im Zentrum der Hirnhemisphäre, und der Hirnrinde.

Im Rahmen eines operativen Eingriffs werden die selbstständig überschiessenden und ansonsten für keinerlei Hirnfunktionen benötigten Neuronen in einem millimetergrossen Teil des Thalamus ausgeschaltet. «Das führt allerdings oft nur zum Erfolg, wenn die Betroffenen gleichzeitig mit Psychotherapie an ihren Gedanken und Gefühlen arbeiten und damit auf das limbische System einwirken», kommentiert Daniel Jeanmonod seine Erfahrung mit bisher zehn Tinnitus-Patienten und einer grossen Anzahl Schmerzpatienten.

Einen zentralen Schalthebel, um den Tinnitus zum Schweigen zu bringen, gibt es nicht, ist auch Neuropsychologe Martin Meyer überzeugt. Er wird im kommenden Jahr gemeinsam mit Prof. Jeanmonod die Gehirnaktivität von Tinnitus-Betroffenen genauer untersuchen.

Ziel ist es, die Dysrhythmien mittels Elektroenzephalographie (EEG) sichtbar zu machen und auf diesem Weg eine objektive und differenzierte Diagnose zu ermöglichen. «Die Prozesse des Hemmens und Verstärkens neuronaler Vorgänge im Zusammenhang mit Tinnitus müssen wir noch besser verstehen», so Meyer.