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«Ironie der Stärke»

Aus Anlass des 150. Geburtstags von Sigmund Freud lud das Interdisziplinäre Psychoanalytische Forum der Universität und der ETH Zürich zu einem Symposium. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus dem In- und Ausland warfen dabei einen Blick hinter die Fassaden der individuellen und gesellschaftlichen Ordnung.
Colina Frisch

An der Tagung «Ironie der Stärke» ging es um Themen, die faszinieren: um Kontroll- und Strukturverlust durch den Einbruch des Ausser-Ordentlichen.

Für die Tagung «Ironie der Stärke» vom 20./21. Oktober hätte niemand ein besserer Gastgeber sein können als das Interdisziplinäre Psychoanalytische Forum (IPF) – ist doch die Psychoanalyse Expertin für das Hintergründige und Abgründige.

„Eironeia“ – Ironie – bezeichnet seit Sokrates ein „sich verstellen“, bei dem man gleichzeitig zeigt, dass man sich verstellt, zum Beispiel durch ein Augenzwinkern, ein Räuspern oder einen bestimmten Tonfall. Insofern dient die Ironie – wie Prof. Dr. Reinhard Fatke in seiner Eröffnungsrede der Tagung erläuterte – als Stilmittel zur Entlarvung und Demaskierung des Grossen, Erhabenen, Geordneten und Starken. In diesem Sinne waren alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Tagung eingeladen, einen Blick hinter die Maske des Geordneten zu wagen, durchaus auch mit einem ironischen Augenzwinkern.

Der Blick hinter die Fassaden

Was aber finden wir, wenn wir mit Hilfe der Ironie das Grosse, Mächtige, Erhabene, Geordnete und Starke entlarven und demaskieren? Unweigerlich drängen sich Begriffe wie Chaos, Destruktivität, Schädigung und Schuld auf. Denn Stärke und Macht implizieren immer auch, die Macht zu schädigen und somit die Möglichkeit, Schuld auf sich zu laden, was das Grosse, Starke in seiner Souveränität empfindlich zu stören vermag. Wie gehen wir also auf individueller und gesellschaftlicher Ebene mit diesen Phänomenen der Schuldgefühle und Schuldzuweisungen, der Schädigung und Destruktivität um?

Interdisziplinärer Austausch

Die Psychoanalyse beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit diesen Themen. Und so gelang es dem IPF zu diesem gleichermassen faszinierenden wie schwierigen Themengebiet Expertinnen und Experten aus den unterschiedlichsten Gebieten zu gewinnen und ein vielfältiges und interessantes Programm zusammenzustellen, welches das Thema aus verschiedensten Blickwinkeln zu beleuchten vermochte: Aus philosophischer, theologischer, psychologischer, juristischer und pädagogischer Sicht wurde referiert und ausgiebig diskutiert.

Gedächtniskatastrophen und Todestrieb

Dass wir uns diesen abgründigen, verunsichernden Dimensionen des menschlichen Daseins nicht einfach entziehen können, illustrierte beispielsweise Michael Hampe, Professor für Philosophie an der ETH Zürich, eindrucksvoll mit dem Begriff der „Gedächtniskatastrophe“: Verdrängte Erlebnisse und Konflikte kehren plötzlich und unkontrollierbar als unerwünschte Erinnerungen in das Bewusstsein zurück und bedrohen das aktuelle Selbstkonzept des Individuums.

Der Umgang mit diesen Dimensionen ist nach wie vor schwierig. Ein Beispiel dafür ist die Heftigkeit, mit der Freuds Konzept des Todestriebes auch heute noch polarisiert und die Gemüter erhitzt. Hermann Lang, Professor für Psychologie an der Universität Würzburg, scheute sich nicht vor der Konfrontation und stellte in seinem Referat verschiedene Deutungen des Konzeptes des Todestriebes vor. Auch Philipp Stoellger, Privatdozent am Theologischen Seminar der Universität Zürich, befasste sich in seinem Referat „Die Ordnung des Übels“ mit dem Todestrieb und beschrieb, wie schon Augustinus in seiner Schrift „De Ordine“ es für unausweichlich hielt, dass das Dunkle in die Gesellschaft – eben in die Ordnung – integriert sei.

Referierte über den individuellen Umgang mit Schuldgefühlen: Prof. Brigitte Boothe, Psychoanalytikerin und Professorin an der Universität Zürich.

Der Biss des Artgenossen

Gerne delegieren wir jedoch Unangenehmes, welches sich nicht restlos ignorieren lässt an andere: So erläuterte zum Beispiel Brigitte Boothe, Psychoanalytikerin und Professorin an der Universität Zürich, in ihrem Referat den individuellen Umgang mit Schuldgefühlen an einem viel diskutierten historischen Beispiel, einer Traumerzählung Freuds. Im Traum entledigt sich Freud aller Schuld gegenüber einer geschädigten Patientin und erreicht den Status einer ärztlich-professionellen und moralisch integren Person, indem ein anderer Schuldiger – ein Schuldenbock – eruiert und moralisch getadelt wird. Der Traum als Erfüllung des Schuld-Entlastungswunsches, moralische Aburteilung anderer im Dienste des eigenen Egos, so analysiert Freud seinen eigenen Traum.

Dirk Fabricius, Professor für Strafrecht, Kriminologie und Rechtspsychologie an der Universität Frankfurt, befasste sich mit Schuldzuweisung auf der gesellschaftlicher Ebene: dem Strafrecht, durch welches der Staat – im Unterschied zum Zivilgesetz – aufgrund von moralischen Schuldzuweisungen Individuen straft. Dirk Fabricius bezeichnete diese Praxis, bei der es im Kern um Demütigung, Degradierung und Statusverlust gehe, als „Biss des Artgenossen“ und stellte Wirksamkeit und Sinn dieser „staatlich verordneten Beleidigung“ in Frage.

Prof. em. Hermann Lübbe (links), der über «öffentliche Entschuldigungen» referierte, im Gespräch mit Prof. em. Ueli Moser, der vor Prof. Boothe die Abteilung Klinische Psychologie leitete und das Psychologische Institut der Universität Zürich massgeblich beeinflusste.

Im Gegensatz zu gesellschaftlichen Schuldzuweisungen, die immer schon en vogue waren, stellte Hermann Lübbe, emeritierter Professor für Politische Philosophie an der Universität Zürich, in jüngster Zeit eine Zunahme von gross angelegten Schuldübernahme-Aktionen und Entschuldigungs-Zeremonien von Staaten oder öffentlichen Institutionen fest. Diese auf den ersten Blick sympathischen Gesten, die Millionen von Fernsehzuschauern zu Tränen rühren, sind nicht vollständig unproblematisch, wie Hermann Lübbe in seinem Referat zu zeigen vermochte.

Destruktivität im schulischen Kontext

Einen anderen gesellschaftlich hochinteressanten Bereich wählte Reinhard Fatke, Professor für Pädagogik an der Universität Zürich: Er beschäftigte sich mit Destruktivität im schulischen Kontext. Entgegen der allgemeinen Diskussion, die sich vor allem um Gewalt dreht, die von Schülerinnen und Schülern ausgeht, sprach Reinhard Fatke auch über Destruktivität, die von Lehrern ausgeht. Es gibt mittlerweile Studien, die belegen, dass Schüler in der Schule nicht nur unter unerlaubtem Verhalten von Mitschülern, sondern auch unter pädagogisch unerlaubtem Verhalten von Lehrpersonen leiden. So z.B. Kränkungen in Form von ungerechten Leistungsbeurteilungen, Vorurteilen und Beschimpfungen, die grossen Schaden in der kindlichen und jugendlichen Psyche anrichten können.

Reinhard Fatke suchte in seinem Referat jedoch keine „Schuldigen“, sondern vermochte vielmehr aus psychoanalytischem Blickwinkel sowohl die Schülerinnen und Schüler auf der einen Seite und Lehrpersonen auf der anderen als Individuen darzustellen, die sich zwischen den Anforderungen der Gesellschaft und den Schwierigkeiten ihrer eigenen Psyche und Entwicklungsgeschichte zu behaupten suchen.