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Germanistik

Wo sich Fuchs und Hase auf «Tittschu» gute Nacht sagen

In einigen abgelegenen Dörfern der piemontesischen Alpen wird noch immer Walserdeutsch gesprochen. Die Linguistin Maria Concetta Di Paolo schreibt ihre Dissertation über die archaischen Sprachformen, die hier bis heute anzutreffen sind. Ihr Projekt wird vom Forschungskredit 2003 der Universität Zürich unterstützt.
David Werner

Das kleine italienische Bergdorf Rimella, wo neunzig der knapp 150 Einwohner noch das mittelalterliche Walserdeutsch «Tittschu» sprechen, liegt am Südfuss des Monte Rosa.

Rimella ist eine kleine italienische Bergsiedlung am Südfuss des Monte Rosa. Im frühen 13. Jahrhundert, so nimmt man an, wanderten Walser von Norden her ein und siedelten sich hier an. Sie brachten ihre alemannische Sprache mit und bewahrten sie über Jahrhunderte. Heute beherrschen noch etwa 90 von 150 Dorfbewohnern das «Tittschu» aktiv. «Im Vergleich zu anderen norditalienischen Walserkolonien wie Alagna oder Macugnaga ist das ein hoher Anteil», sagt Maria Concetta Di Paolo. Sie ist fasziniert von der Komplexität der Sprachsituation in einem so winzigen Dorf: Neben dem ortspezifischen Walserdialekt wird hier auch italienisch bzw. der in den Nachbargemeinden übliche piemontesische Dialekt gesprochen. Nur die älteren Bewohner – sie machen den Hauptanteil der Dorfbevölkerung aus – benutzen das walserische «Tittschu» im Familien- und Freundeskreis noch regelmässig, und zwar vor allem dann, wenn sich das Gespräch auf die Land- und Viehwirtschaft bezieht.

Die Abgeschiedenheit von Rimella hat es ermöglicht, dass sich im «Tittschu» noch mittelalterliche Sprachelemente finden.

Vom Aussterben bedrohter Dialekt

Maria Concetta Di Paolo hat eine enge Beziehung zu Rimella. Seit fast zehn Jahren kommt sie regelmässig aus den Abruzzen und gegenwärtig aus der Lombardei hierher, inzwischen besitzt sie sogar ein kleines Ferienhaus mitten im Ort. «Die Einheimischen», erzählt sie, «sind selbst sehr interessiert daran, etwas über ihren einzigartigen, vom Aussterben bedrohten Dialekt zu erfahren.» In zwei Sommern hat Maria Concetta Di Paolo elf Tonbandkassetten mit Interviews bespielt, die sie mit einer Auswahl von älteren Dorfbewohnern geführt hat. Dieses Korpus gesprochener Texte bildet die Grundlage ihrer linguistischen Untersuchungen. Wortschatz (Lexik) und Sprachveränderungen in der Morphologie interessieren sie besonders. In dieser Hinsicht hat Rimella Einzigartiges zu bieten, denn die geographische Isolation des kleinen Ortes führte dazu, dass der lokale Dialekt von der Entwicklung, die das Walliserdeutsch seit dem Mittelalter durchgemacht hat, praktisch unberührt blieb. Entsprechend archaisch ist der Wortschatz des «Tittschu»; es haben sich Worte erhalten wie: «berru» = tragen, «öischpiegle» = Brille oder «haftu (den buttu)» = (einen Knopf) annähen.

Aussicht ins Tal.

Mehrsprachigkeits-Phänomene

Als Freilichtmuseum für Archaismen will Maria Concetta Di Paolo das Dorf Rimella aber nicht verstanden wissen; noch spannender als sprachliche Relikte aus dem Mittelalter findet sie die spezifischen Mehrsprachigkeits-Phänomene in Rimella. Hauptthema ihrer Dissertation ist denn auch die wechselseitige Beeinflussung von italienischem und walserischem Dialekt. Maria Concetta Di Paolo geht den zahlreichen Neubildungen und Lehnbildungen im Wortschatz des «Tittschu» nach, die dem Sprachkontakt mit dem Italienischen zu verdanken sind; sie fragt nach den verborgenen Gesetzmässigkeiten, die dafür sorgten, dass gewisse hochalemannische Elemente bestehen blieben, andere aber durch romanischen Einfluss umgestaltet wurden oder ganz verschwanden.

Sprachwandel in Regionen

Maria Concetta Di Paolo sieht das Ziel ihrer Arbeit nicht nur in der Erforschung eines einzelnen Walserdialekts; sie versteht ihr Projekt vor allem auch als Beitrag zu einer Forschungsrichtung, die in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen hat: der Kontaktlinguistik, die den Sprachwandel in Regionen untersucht, wo mehrere Sprachen aufeinandertreffen.

Wichtig und hilfreich für Maria Concetta Di Paolos Arbeit sind das Phonogrammarchiv in Zürich sowie zwei italienische Einrichtungen, die der Erforschung sprachlicher Minderheiten in Italien dienen: erstens das «Archivio Sonoro» der Region Piemont in Turin, wo Aufnahmen mundartlicher Varietäten der Walserdialekte des Piemonts gesammelt und archiviert werden; zweitens das «Centro Studi di Dialettologia Tedesca» an der Universität von Pescara, wo Di Paolo selbst mehrere Jahre bei Prof. Elisabetta Fazzini Giovannucci studiert hat. Ein Jahr verbrachte sie ausserdem an der Universität Zürich, wo sie mit Prof. Elvira Glaser vom Deutschen Seminar zusammen arbeitete. Die Schweiz war für sie schon vorher kein unbekanntes Terrain: Acht Jahre ihrer Kindheit hat die Italienerin in Zürich verbracht. Schweizerdeutsch versteht sie seither problemlos. Das hat ihr die Erforschung des für Aussenstehende schwer verständlichen «Tittschu» wesentlich erleichtert.

David Werner ist Redaktor des «unijournals» und freier Journalist.